Brüssel. Das Austrittsabkommen nach den Brexit-Verhandlungen sollte eigentlich am Montag vorgestellt werden. Doch dann kam es ganz anders.

Wende in den Brexit-Verhandlungen: Die Unterhändler der EU-Kommission und der britischen Regierung haben sich am Sonntagabend in Brüssel nicht auf den Entwurf eines Austrittsabkommens einigen können – obwohl es über das Wochenende starke Anzeichen für einen Durchbruch gegeben hatte.

Es gebe Fortschritte, aber noch keine Einigung, in den nächsten Tagen bis zum EU-Gipfel seien keine weiteren Verhandlungen geplant, erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier nach Informationen unserer Redaktion bei einem kurzfristig einberufenen Treffen der EU-Botschafter in Brüssel.

Damit gerät fünfeinhalb Monate vor dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU der gesamte Zeitplan für den Scheidungsvertrag in Gefahr.

Elmar Brok „enttäuscht und besorgt“

Der EU-Außenpolitiker Elmar Brok (CDU), der der Brexit-Lenkungsgruppe des EU-Parlaments angehört, äußerte sich „sehr enttäuscht und besorgt“ über das Ergebnis. Unserer Redaktion in Brüssel sagte Brok am Abend: „Wenn die Verhandlungen jetzt vertagt sind, wird es später nach dem EU-Gipfel nicht leichter. Das Momentum, das es nach dem Tory-Parteitag gab, ist nun weg.“

Eigentlich sollte der EU-Gipfel an diesem Mittwoch grundsätzlich die bisherigen Verhandlungsergebnisse absegnen, damit das Brexit-Gesamtpaket bei einem Sondergipfel im November beschlossen werden kann und dann rechtzeitig vor dem Austrittstermin 29.März 2019 ratifiziert werden kann. Dazu war aber erwartet worden, dass das britische Kabinett am Montagvormittag den bis dahin ausgehandelten Entwurf des Austrittsabkommens absegnet.

Offensichtlich trat Premierministerin Theresa May angesichts einer drohenden Regierungskrise in London am Sonntag auf die Bremse. May sieht sich wegen der zuletzt diskutierten Zugeständnisse von einem Aufstand in ihrer Partei bedroht, die Mehrheit im Parlament für ein Brexit-Abkommen ist zweifelhaft.

Der frühere Brexit-Chefunterhändler David Davis rief am Sonntag die Mitglieder von Mays Regierungskabinett offen zur Meuterei gegen die Premierministerin auf. „Es ist Zeit für das Kabinett, seine kollektive Autorität auszuüben“, schrieb Davis in einem Beitrag für die Zeitung „Sunday Times“.

Grenze zu Irland ist der Knackpunkt

Die nordirische Partei DUP, auf deren Stimmen Mays Regierung im Parlament angewiesen ist, warnte ebenfalls vor einer übereilten Vereinbarung: Am wahrscheinlichsten sei nach den Gesprächen der letzten Tage ein Brexit ohne Vertrag, sagte DUP-Chefin Arlene Foster.

Knackpunkt der Austrittsverhandlungen ist die Suche nach einer Möglichkeit, eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu verhindern. Darauf dringt die EU. Als Notfalllösung, wenn in den Handelsabkommen bis zum Ende der Brexit-Übergangsperiode 2020 keine andere Vereinbarung getroffen wurde, pocht die EU darauf, dass Nordirland zunächst Teil des EU-Binnenmarkts bleibt.

Im Gespräch waren nun zwei Modelle für Großbritannien: Entweder bliebe das Vereinigte Königreich übergangsweise in einer Zollunion mit der EU. Oder Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien würden nach dem Modell der Kanarischen Inseln auf ein Minimum reduziert.

Die Ein- und Ausfuhr von Waren würde bereits auf den Fähren oder in bestimmten Transit-Häfen überprüft, in vielen Fällen würden nur die elektronischen Codes auf den Containern kontrolliert. Diese Praxis gibt es bereits für die Kanarische Inseln, die zwar zu Spanien und damit zur EU gehören, aber als steuerrechtliches Sondergebiet gelten. Die Kanaren-Option hatte Barnier ins Gespräch gebracht.

Beide Modelle stoßen aber auf heftigen Protest bei einem Teil von Brexit-Befürwortern in London. Die nordirische, pro-britische DUP lehnt vehement jede Regelung ab, nach der Nordirland anders behandelt würde als der Rest des Königreichs. Auch in Mays konservativer Partei besteht die Sorge, dass mit einem solchen Kompromiss ganz Großbritannien auf unabsehbare Zeit in einer Zollunion mit der EU bliebe.

Machtspiele in Mays Regierung

Der konservative Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg erklärte am Wochenende, May müsse mit Gegenstimmen von mindestens 40 Abgeordneten ihrer Partei gegen ihre Brexit-Pläne rechnen. Der EU-Außenpolitiker Brok sagte: „Offenbar haben Machtfragen im britischen Kabinett die zentrale Rolle gespielt“. Dabei käme jetzt alles darauf an, „dass die britische Premierministerin den Mut hat zu springen.“

Brok appellierte an May: „Sie muss die parteitaktischen Überlegungen abhaken und endlich eine Einigung in der Sache voranbringen. Wir haben schon viel Zeit verloren.“ Brok betonte aber, es gebe für die EU einen Grundsatz, der nicht gefährdet werden könne: Die Einheit des Binnenmarktes müsse auf jeden Fall erhalten bleiben.

Für das Europäische Parlament sei zudem die Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland als Bestandteil des Austrittsvertrags wesentlich. Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen forderte unterdessen ein „Ende der Rosinenpickerei“ durch Großbritannien.

Durch den sogenannten Briten-Rabatt, der Londons Beitragszahlungen in den EU-Haushalt reduziert, habe das Land von 1984 bis 2017 rund 128 Milliarden Euro gespart – auf Kosten der Steuerzahler der anderen EU-Staaten.