Berlin. Erdogan behandelt seine Gegner wie Staatsfeinde. Er hat jedes Maß verloren. Seine Politik der Einschüchterung reicht bis Deutschland.

Auf die öffentliche Verunglimpfung eines Staatspräsidenten stehen hohe Strafen, in Deutschland bis zu fünf Jahre Haft. Daran muss man erinnern, weil in Ankara am Donnerstag der Prozess gegen einen Mann aus Braunschweig begann, der Staatschef Recep Tayyip Erdogan auf Facebook als „Kindermörder“ bezeichnet haben soll.

Die Empörung in Deutschland ist groß. Viele reden über den Fall, als ob der Ehrenschutz ein Willkürparagraf, eine Marotte Erdogans wäre. Sie machen es sich zu einfach. Auch Politiker verdienen Respekt, sie sind kein Freiwild und soziale Netzwerke keine rechtsfreien Räume.

Die Anklage gegen den Braunschweiger ist an sich noch keine Grenzverletzung, und die Reaktion des Gerichts war verhältnismäßig. Es setzte den Angeklagten auf freien Fuß, weil er nicht vorbestraft ist.

Milde Reaktionen sind Erdogan wesensfremd

Eine Besonderheit des deutschen Rechts ist, dass solche Taten lediglich mit der Ermächtigung des Bundespräsidenten verfolgt werden. Meist haben die Präsidenten davon abgesehen, weil sie ihr Amt souverän ausübten und ihre Schmäher mit Milde und Toleranz beschämten. Das ist ein Reaktionsmuster, das Erdogan wesensfremd ist. Mit Vorliebe statuiert er Exempel, unerbittlich und gnadenlos. Es gibt Tausende Beispiele dafür.

Der zweite große Unterschied ist, dass man inzwischen Zweifel haben muss, ob ein Angeklagter in der Türkei überhaupt noch ein faires Verfahren bekommt. Es läuft auf eine Umkehr der Beweislast hinaus. Der Angeklagte muss seine Unschuld beweisen – und nicht umgekehrt die Staatsanwaltschaft ihm eine Schuld nachweisen.

Diese Deutschen waren in türkischer Haft

Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation.
Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation. © dpa | Soeren Stache
Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte.
Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte. © REUTERS | HANDOUT
#FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels.
#FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance /
Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt.
Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. © dpa | Lefteris Pitarakis
Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt.
Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt. © Facebook/Mesale Tolu | Facebook/Mesale Tolu
Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben.
Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben. © dpa | Linda Say
Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen.
Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen. © dpa | Emrah Gurel
Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“
Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“ © REUTERS | OSMAN ORSAL
Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden.
Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden. © dpa | Privat
Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören.
Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören. © privat | privat
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Und so muss jeder, der das Glück hatte, aus der Untersuchungshaft in der Türkei entlassen zu werden und nach Deutschland zurückkehren zu dürfen, sich zweimal überlegen, ob er das Risiko auf sich nimmt, zur Hauptverhandlung wieder in das Land zu reisen.

Kein Schutz vor Einschüchterung in Deutschland

Man ahnt, was solche Erfahrungen mit den Türken in Deutschland, beziehungsweise mit den türkischstämmigen Deutschen machen. Sie erzeugen Verunsicherung, ein Klima der Angst. Sie sollten sich künftig zweimal überlegen, was sie posten, twittern oder sonst wo an die große Glocke hängen – und vor allem, ob sie noch unbefangen in die Türkei reisen können.

In Deutschland sind sie in Sicherheit, aber gewiss nicht vor Einschüchterung geschützt. Erdogan behandelt Gegner wie Staatsfeinde und die wie Vogelfreie. Er verliert jedes Maß. Auch dafür gibt es viele Beispiele, wie der Umgang mit dem Journalisten Deniz Yücel oder mit dem US-Pastor Andrew Brunson zeigt, der ohne Anklage im Gefängnis sitzt.

Journalist Can Dündar tritt nur noch mit Polizeischutz auf

Was die Türkei in diesen Tagen Saudi-Arabien vorwirft – die Verschleppung oder gar Ermordung eines Journalisten –, ist übrigens ein Beispiel von Doppelmoral. Ende Juli hat die Mongolei die Entführung des türkischen Staatsbürgers Veysel Akçay gerade noch verhindern können, weil sie der Maschine der türkischen Luftwaffe den Start verweigerte.

Der Mann war Leiter einer Schule, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht wird. In Berlin tritt der türkische Journalist Can Dündar nur noch unter Polizeischutz öffentlich auf. Und es klingt nicht tollkühn, sondern glaubhaft, was in der Hauptstadt die Runde macht, nämlich, dass Autos gesehen wurden, die denen einer berüchtigten türkischen Polizeieinheit ähneln.

Die Beispiele zeigen erstens eine Strategie der Einschüchterung und zweitens, dass Verletzungen der Souveränität anderer Staaten in Kauf genommen werden. Auch da ist die Türkei kein Einzelfall. Der Rechtsstaat ist leider weltweit eine vom Aussterben bedroht Spezies.