Berlin. Beide Seiten bauen Drohkulissen auf: Doch Großbritannien und die EU sind zu einer Einigung auf ein tragfähiges Brexit-Konzept verdammt.

Totgesagte leben länger – auch in der Politik. Seit Monaten sagen Kritiker der britischen Premierministerin Theresa May das Ende im Amt voraus. Tenor: Die Meuterer in der eigenen Konservativen Partei, allen voran Ex-Außenminister Boris Johnson, wetzten bereits die Messer. Mays parlamentarische Mehrheit sei zu dünn, ihr Brexit-Konzept zu wachsweich. Bislang jedenfalls lagen die Untergangs-Propheten falsch.

Auch beim Tory-Parteitag zog May wieder einmal den Kopf aus der Schlinge. Ungewohnt empathisch, stellenweise mitreißend stellte sie sich als verlässliche Kraft der Mitte dar. Die Tanzeinlage zum Abba-Hit „Dancing Queen“ zeigte: Die oft distanziert und hölzern wirkende Premierministerin kann auch anders.

Premierministerin Theresa May hat Boris Johnson isoliert

Den Frontalangriff von Brexit-Hardliner Johnson, der ihrer Regierung am Vortag „kollektives Versagen“ vorgeworfen hatte, parierte May elegant. Ohne Johnson beim Namen zu nennen, geißelte sie die Spalter, die die Einheit des Landes aufs Spiel setzten. Damit isolierte sie den Partei-Rebellen und Konkurrenten um den Sitz in Downing Street Nummer 10.

Einen parteiinternen Putsch muss May zumindest derzeit nicht fürchten. Ihr größter Rivale Johnson kann zwar mit seinen harten Brexit-Tönen und seinem rhetorischen Sturmlauf gegen das Bürokratie-Monster Brüssel die Basis elektrisieren. Aber in der Fraktion, die die zwei Kandidaten für eine Urwahl vorschlagen würde, steht er auf ziemlich verlorenem Posten.

Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass keiner der Brexit-Akteure einen überzeugenden Plan hat. Nigel Farage, der vor dem Referendum im Juni 2016 am schrillsten für den Brexit getrommelt hatte, machte sich kurz danach vom Acker: Er legte den Vorsitz der rechtspopulistischen Ukip-Partei nieder.

Die Pläne der Regierungschefin skizzieren einen Ja-aber-Brexit

Auch Johnson fabuliert von einer strahlenden Zukunft eines nur auf sich selbst gestellten Großbritanniens. Seine Vision eines Freihandelsvertrags mit der EU – ein „Super-Kanada-Abkommen“ – hört sich für seine Anhänger vielleicht verführerisch an, ist aber nicht realistisch. Sie lässt sich jedenfalls nicht gegen den Willen Brüssels durchdrücken.

May tanzt zu „Dancing Queen“ ans Mikrofon.
May tanzt zu „Dancing Queen“ ans Mikrofon. © dpa | Stefan Rousseau

May hingegen versteht sich als Exe­kutorin des Volkswillens. Dahinter steckt eine gehörige Portion Opportunismus. Beim Brexit-Referendum hatte sie noch für den Verbleib in der EU gestimmt. Nun verkauft sie sich als beharrliche Umsetzerin des Beschlusses der knappen Mehrheit der Briten, die für den Ausstieg aus der Gemeinschaft votiert hat.

Doch auch May verfügt nur über Wachsweich-Vorschläge: Sie will eine Freihandelszone mit der EU für Waren, aber nicht für Dienstleistungen. Nach wie vor ungeklärt ist die Grenzregelung zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland. Es ist ein Ja-aber-Brexit.

Die Kosten werden steigen – Leidtragende sind die Verbraucher

Dies alles läuft den Interessen der Unternehmen entgegen. Die EU ist eine Handelsmacht, die selbst von US-Präsident Donald Trump ernst genommen wird. Die Zölle, die nach dem Brexit unweigerlich kommen, erhöhen die Kosten für viele Produkte. Leidtragende sind die Verbraucher. Vor diesem Hintergrund sind die EU und Großbritannien dazu verdammt, auf irgendeine Weise einen Kompromiss zu erzielen.

Am Ende des großen politischen Fingerhakelns wird eine Kuddelmuddel-Lösung stehen – mit Übergangsfristen und Teileinigungen. Die Wirtschaft ist zu sehr international verflochten, britische Firmen hängen von Lieferungen aus EU-Ländern ab und umgekehrt. Ein ungeordneter Brexit wäre wie eine saftige Preiserhöhung: Er würde alle treffen.