London. Der Brexodus hat begonnen. Zahlreiche Briten sehen sich besser auf dem Kontinent aufgehoben. Ein großer Teil möchte nach Deutschland.

„Es ist, als ob ich wieder eine Heimat verloren habe.“ Magdalena Williams sitzt an ihrem Wohnzimmertisch, knetet ihre Finger und versucht ein Lächeln, das ihr nicht gelingt. Ihre Heimat, das ist zurzeit noch St. Mary Cray im Südosten Londons. Ihre alte Heimat war vor über sechzig Jahren das kommunistische Ungarn, aus dem ihre Familie 1956 flüchtete. Da war sie noch ein Kind. Jetzt steht wieder eine Veränderung an.

Magdalena Williams, eingebürgerte Britin, will ihr Land wegen des bevorstehenden Brexits, dem Ausstieg des Königreichs aus der EU, verlassen. Sie bemüht sich um die deutsche Staatsbürgerschaft. Noch bevor der Brexit Ende März 2019 erfolgt, soll es losgehen. „Nach Passau vielleicht“, sagt die 70-Jährige, „das ist nahe Österreich, wo mein Bruder wohnt.“

Einbürgerungen von Briten stark angestiegen

Der Brexodus von Briten, die ihrem Land den Rücken kehren, hat begonnen. Enttäuscht und besorgt über den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union, wandern viele auf den Kontinent aus, und nicht wenige wollen sich in Deutschland niederlassen. Die Zahl der Einbürgerungen von britischen Staatsbürgern ist zuletzt massiv angestiegen.

Die Statistik zeigt, dass im Jahr 2015 vor dem Brexit Referendum nur 622 Briten die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. 2017 waren es dagegen schon 7493 Insulaner, so viele wie nie zuvor. Und das sind nur die Briten, die heute schon in Deutschland wohnhaft sind.

Noch im Königreich befinden sich laut einer Umfrage der Online-Jobplattform StepStone rund 600.000 auswanderungswillige Briten. 44 Prozent von ihnen, also rund 264.000 Insulaner, benennen Deutschland als ihre erste Wahl.

„Nicht mehr das Land, in das ich mich verliebt habe“

Für Magdalena Williams ist die Emigration der ultimative Protest. Bis zum Referendum hatte sie sich als Britin gefühlt. „Ich bewunderte diese offene, tolerante Gesellschaft. Ich wurde angenommen, das ist für mich sehr wichtig als Flüchtling.“ Aber im Referendums-Wahlkampf habe sie Erfahrungen gemacht, die ihr die Augen öffneten. Sie hat Anfeindungen, sie hat Rassismus erlebt. „Es ist nicht mehr das Land, in das ich mich verliebt habe.“ Ein Neuanfang in Deutschland würde schwer. „Es ist ein Riesenschritt in meinem Alter. Aber hier will ich nicht bleiben.“

Die pensionierte Sprachlehrerin hat den Kampf gegen den Brexit zu einem Ganztagsjob gemacht. Sie verbringt täglich fünf, sechs Stunden mit sozialen Medien, um den Widerstand der „Remainer“, wie die Brexit-Gegner heißen, zu organisieren. Sie besucht Info-Abende, spricht auf Anti-Brexit-Veranstaltungen, verteilt in Fußgängerzonen Flugblätter, hält vor dem Regierungssitz in der Downing Street Mahnwachen und ist regelmäßig bei Aufmärschen dabei. Selbst ihre beiden Hunde Bonnie und Bis­cuit werden eingespannt. Wenn es auf Demonstrationen gegen den Austritt geht, bekommen die beiden ein blaues Tuch mit gelben Sternen um den Hals gebunden und marschieren mit.

Fremdenfeindlichkeit massiv angestiegen

Wenn Magdalena Williams im nächsten Jahr auswandert, werden Mike Moseley (60) und seine Lebensgefährtin Silke Oehler (49) schon in Deutschland angekommen sein. Im November soll der Umzug nach Mülheim a. d. Ruhr stattfinden. Mike, von Beruf Ingenieur, will dann deutsche Firmen beraten, „die oft keine Ahnung haben, wie der Zugang zum britischen Baugewerbe funktioniert“. Silke kann als Übersetzerin pro­blemlos das Land wechseln, „solange ich eine funktionierende Internetverbindung habe“.

Der Grund für ihren Umzug ist teilweise persönlicher Natur, weil Silke für ihre 77-jährige Mutter sorgen will. Aber auch der Brexit hat sie bei der Entscheidung beeinflusst. Die Stimmung im Land hat sich gedreht, fremdenfeindliche Übergriffe sind nach der Referendumsentscheidung massiv angestiegen. Ihre italienische Freundin Alice, berichtet Silke, habe man vor einigen Tagen in der U-Bahn angegriffen: „Sie ist mit einem Schirm geschlagen und als Immigrantin beschimpft worden.“ Keiner habe geholfen, nicht mal das U-Bahn-Personal.

Brexit-Gegner: Regierung hat keinen Plan

Mike ist ein entschiedener Brexit-Gegner, geht zu Demonstrationen und Vorträgen und hält wenig von der konservativen Regierung, die auch zwei Jahre nach dem Referendum keinen brauchbaren Plan dafür hat, wie es nach dem Austritt weitergehen soll. Aber er ist auch ein Optimist und hofft, dass es im schlimmsten Fall „zu ein paar Wochen Chaos kommt, und dann renkt sich wieder vieles ein.“

Seine Partnerin ist skeptischer: „Hoffe das Beste, aber bereite dich aufs Schlimmste vor, ist meine Devise“, sagt Silke. Ein harter Brexit ohne Austritts- und Freihandelsdeal sei durchaus möglich. Das Paar sieht sich jedenfalls in Zukunft besser in Deutschland als im Königreich aufgehoben.

Neues Leben in Deutschland: Anne und Tony Graham sind bereits nach Baden-Württemberg gezogen.
Neues Leben in Deutschland: Anne und Tony Graham sind bereits nach Baden-Württemberg gezogen. © Jochen Wittmann | Jochen Wittmann

Anne Graham und ihr Mann Tony gehören zu den rund hunderttausend Briten, die nach Schätzung der britischen Statistikbehörde ONS heute schon in Deutschland leben. Der 51-Jährige und seine 50-jährige Frau zogen Anfang Mai in die Nähe von Stuttgart, wo Tony als Elektronikingenieur bei Dialog Semiconductor arbeitet. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit über seine Eltern – deutsche Juden aus Hamburg, die im Zuge des Kindertransports 1939 nach England flohen und sich dort einbürgerten. Für Anne und Tony war der Brexit der ausschlaggebende Grund für ihre Auswanderung.

Bisher gibt es nur wohlwollende Zusicherungen

„Die EU hat Krieg in Europa verhindert“, meint Anne, „und den Leuten geht es besser, wenn alle zusammenarbeiten. Ich bin entsetzt über den Brexit.“ Tony sieht vor allem wirtschaftliche Konsequenzen auf die Briten zukommen. „Vom ökonomischen Standpunkt aus könnte es ein Desaster werden. Wir könnten wie Griechenland oder Portugal enden.“ Ihr Sohn und ihre Tochter, die beide noch in Großbritannien studieren, haben die Auswanderung der Eltern unterstützt. Jetzt konzentrieren sich die Grahams darauf, Deutsch zu lernen.

Sie engagieren sich in der Gruppe „British in Germany“, die für die Bürgerrechte der „Expats“, wie im Ausland lebende Briten heißen, streitet. Denn immerhin sind eine ganze Reihe von Fragen noch offen: Wie geht es mit der Freizügigkeit weiter? Werden Berufsqualifikationen anerkannt? Dürfen Familienangehörige nachziehen? Und was ist mit dem Aufenthaltsrecht, wenn man mal eine Zeit lang das Land verlässt? Bisher gibt es nur wohlwollende Zusicherungen, aber keine rechtssicheren Garantien. Auch wenn sie in Deutschland leben, sind die „Expats“ den Folgen des Brexits noch nicht entkommen.