Jena. Merkels erster Auftritt nach der Sommerpause ist ein Gespräch mit Bürgern über Europa. Sie pariert, sogar mit ein wenig Leidenschaft.

Wo sie die vergangenen Wochen genau verbracht hat, das will Angela Merkel auch beim ersten großen Auftritt nach der Sommerpause nicht verraten. Kur, Pflege der Mutter oder ein neues Urlaubsziel? Die Öffentlichkeit erfährt es nicht.

Stattdessen will die erholt aussehende Regierungschefin wissen, was Bürger über Europa denken. „Bürgerdialog“ nennt sich das. Ein netter Termin im thüringischen Jena, nachdem es in den Wochen vor der dreiwöchigen Pause für die CDU-Vorsitzende wenig zu Lachen gab.

Bürgerdialog nicht nur in Deutschland

Noch vor sechs Wochen musste Merkel um ihr Amt bangen. Der erbitterte Streit mit der Schwesterpartei CSU und Bundesinnenminister Horst Seehofer über die richtige Flüchtlingspolitik hatte die große Koalition, die Merkel in ihrer vierten Amtszeit führt, an den Rand ihrer Existenz gebracht.

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Nun trifft die 64-Jährige am Dienstag das erste Mal nach dieser Krise auf Menschen, deren Beruf nicht die Politik ist. Der Bürgerdialog findet in allen EU-Ländern statt und soll die Frage klären, wie sich die Menschen Europa wünschen.

Wie erleben Bürger Europa in ihrem Alltag? Welche Rolle spielt Europa für Deutschland insgesamt? Wie sollte Europa in Zukunft aussehen? Die Ergebnisse werden zusammengetragen und ausgewertet. Merkel hatte bereits im Mai mit Schülern in Berlin in diesem Rahmen diskutiert.

Thema Europa bewegt alle

Diesmal sind es Bürger, die sich bei der „Ostthüringer Zeitung“ und der „Thüringischen Landeszeitung“ beworben haben. Die beiden Titel gehören, wie diese Zeitung auch, zur FUNKE Mediengruppe.

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Thematische Vorgaben gibt es nicht. In einem Workshop, einer inhaltlichen Einstimmung auf den Dialog mit der Kanzlerin, wird schnell deutlich: Das Thema Europa bewegt alle, egal welchen Alters, welchen Geschlechts und welchen Berufs. Merkel selbst wird zunächst gefragt, was sie denn mit Europa verbinde: Als Politikerin „lange Verhandlungsnächte“, als Bürgerin die Reisefreiheit und ein „großes Sicherheitsgefühl“.

Merkel wirkt nach Pause sichtlich erholt

Was Angela Merkel immer wieder betonte: die komplizierten Entscheidungsprozesse.
Was Angela Merkel immer wieder betonte: die komplizierten Entscheidungsprozesse. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH

Den etwa 60 Menschen brennt vieles auf der Seele, der Ton in der Diskussion ist jedoch stets ein sachlicher: „Es fehlt an Politikern, die diese Visionen vermitteln können“, bemängelt einer. „Europa hat ein Kommunikationsproblem, ich weiß gar nicht, was in Brüssel oder Straßburg passiert“, sagt ein anderer. Ein angehender Landwirt beklagt die Agrarpolitik der EU, eine junge Frau beschwert sich, dass man gemeinsam zu wenig gegen die Umweltverschmutzung tue.

Das Thema Migration kommt schnell auf den Tisch. Wie man die Menschen denn besser integrieren könne, und warum man nicht gezielt vor Ort helfe?

Sie wolle, dass diejenigen, die nach Deutschland wollten, ob als Flüchtlinge oder Fachkräfte, auf legalem Wege kommen könnten und sich nicht Schleppern und Schleusern anvertrauen, sagt die CDU-Chefin. Und macht gleichzeitig deutlich, dass man nicht alle aufnehmen könne.

Auch verteidigt sie erneut das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. „Das ist ein Geben und Nehmen“, sagt sie auf die Bemerkung einer Teilnehmerin, dass man die Türkei dafür bezahle, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kämen.

Beim Thema Brexit wird Merkel deutlich

Die Kanzlerin betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Außengrenzenschutzes der EU. Viele der Menschen, die wegen des Krieges im Nachbarland Syrien in die Türkei geflüchtet seien, wollten gar nicht nach Deutschland, sondern zurück in ihre Heimat, wenn der Krieg beendet sei. Es sei in beiderseitigem Interesse, der Türkei bei der Versorgung der Migranten und Flüchtlinge zu helfen, damit diese in der Nähe ihrer Heimat blieben und nicht nach Europa weiter wanderten.

Das Thema Europa lag den Menschen beim Bürgerdialog am Herzen.
Das Thema Europa lag den Menschen beim Bürgerdialog am Herzen. © dpa | arifoto UG

Der Veranstaltungsort, die Imaginata, ist nach dem Geschmack der Naturwissenschaftlerin Merkel. Das ehemalige Umspannwerk Jena-Nord ist ein wissenschaftliches Erfahrungszentrum geworden, in dem Besucher selbst experimentieren dürfen. Zwischen Chaos-Pendeln und Prismabrillen fühlt sich die Physikerin Merkel sichtlich wohl. Und beantwortet jede Frage ausführlich.

Beim Thema Brexit wird Merkel sehr deutlich. Großbritannien dürfe nach einem EU-Austritt nicht zu viele Vorteile haben. „Denn wenn raus kommt: Du kannst austreten, hast alle Vorteile – das wäre auch keine gute Werbung für die EU“, erklärt sie und verweist auf EU-Auflagen oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, der sich die Regierung in London nicht mehr unterwerfen wolle. Deshalb müsse klar werden, dass es auch für Unternehmen negative Folgen durch den Brexit geben müsse.

Der Herbst wird heikel für Merkel

Auch nach dem CSU-Lieblingsprojekt, der Pkw-Maut wird Merkel gefragt. „Jetzt ist das wieder auf der Tagesordnung“, bescheinigt sie. Es soll noch in dieser Legislaturperiode kommen. Horst Seehofer wird das gerne hören. Interessant ist, dass die Regierungskrise, der strategische Kampf zwischen CDU und CSU bei den Menschen keine Rolle mehr spielt.

Dennoch wird der Herbst für Merkel heikel. Der Streit mit der CSU ist nur mühsam gelöst, die Weltlage unter einem US-Präsidenten Donald Trump weiter heikel, schon am Wochenende kommt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Gast zu Merkel, der für den Westen eine große Herausforderung darstellt.

Die kurzfristig aufgeflammte parteiinterne Diskussion, wie die CDU sich künftig das Regieren in einem Sechs-Parteien-System vorstellt, hat Merkel zwar am Montag mit einem Basta erledigt. Doch die Äußerung des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU), im Osten der Republik notfalls auch mit der Linken zu reden, war ein Hinweis darauf, welche Diskussionen der Partei noch bevorstehen, an deren Spitze sich Merkel im Dezember wieder wählen lassen will.

„Europa muss das Herz berühren“

Kurz vor Schluss macht Heike Rode, Angestellte der Stadtverwaltung aus Stadtroda, es der Kanzlerin ebenfalls nicht leicht: „Es fehlt der deutschen Politik die Vision und die Leidenschaft dafür europäische Politik rüberzubringen“. Vom Verstand her sei sie beim Pragmatismus der Kanzlerin, ihr Herz aber schlage für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Sie habe den großen Wunsch, dass ihre beiden erwachsenen Kinder sich ihr Leben lang als Europäer fühlen. „Da muss man das Herz berühren“. Merkel sei das bislang nicht gelungen.

Das versteht die Kanzlerin nicht so ganz. Sie habe doch jetzt soviel erklärt, was es alles an positiven Gemeinsamkeiten gebe, von der Verteidigung hin zu der gemeinsamen Handels- und Währungspolitik. Wer bei Merkel Leidenschaft für Europa will, der muss tatsächlich auf die Nebensätze in vielen technischen Erklärungen hören. Für die, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, sei Europa der Garant für den Frieden, sagt sie etwa. Aber jetzt komme eine junge Generation, die das gute Zusammenleben der Nationen in der EU als selbstverständlich erachteten.

Merkel: „Europa ist ein Schatz“

„Da dürfen wir nicht leichtsinnig werden“, betont die Regierungschefin. Auch sie denke in langen Verhandlungsnächten oft, warum das nicht alles schneller gehen könne. Aber nur durch Kompromisse könne eine Gemeinschaft bestehen. Daher wolle sie für den Kompromiss eine Lanze brechen. Und fährt fort: „Europa ist ein Schatz, den man hüten muss.“

Da ist sie die Leidenschaft – wenn auch etwas verdeckt.