Brüssel. US-Präsident Donald Trump sät Zweifel an seiner Bündnistreue – doch mittelfristig bleibt die EU auf amerikanischen Schutz angewiesen.

Schwere Zeiten für die europäische Sicherheitspolitik: Erst drohte US-Präsident Donald Trump beim Nato-Gipfel vor drei Wochen indirekt mit dem Ausstieg aus dem Verteidigungsbündnis, dann stellte er per Interview den amerikanischen Beistand für das europäische Nato-Mitglied Montenegro infrage. Die USA, gab der Präsident zu bedenken, könnten schnell im Dritten Weltkrieg landen. So sät Trump immer wieder Zweifel, ob die USA noch ein verlässlicher Bündnispartner bei der Verteidigung Europas sind.

Experten sind besorgt, doch eine Mehrheit der Bundesbürger zeigt sich unbeeindruckt: 56 Prozent der Deutschen sind einer neuen Umfrage zufolge davon überzeugt, dass Europa auch ohne den Beistand der USA für die eigene Sicherheit sorgen könnte – nur ein gutes Drittel glaubt, Europa sei auf Beistand der USA angewiesen. Aber stimmt das? Kann Europa sich selbst schützen?

EU-Politiker setzen weiter auf die USA

EU-Verteidigungspolitiker halten die Debatte für gefährlich: „Polemisch gesagt: Putins und Trumps Versuch, die USA und Europa sicherheitspolitisch zu spalten, sollten wir nicht ins Blatt spielen“, sagt der EU-Abgeordnete und Sicherheitsexperte Reinhard Bütikofer dieser Zeitung. Strategische Autonomie für die EU sei „unrealistisch und kein verfolgenswertes Ziel“.

Der EU-Außenpolitiker David McAllister (CDU) meint: „Diverse Äußerungen von Trump sind widersprüchlich und bieten Anlass zur Sorge.“ Aber, betont der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament: „Wesentliche politische Kräfte in Washington stehen ohne Abstriche zu den amerikanischen Bündnisverpflichtungen. Die USA bleiben ein strategischer Partner für uns.“

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    Verteidigungsexperten: Ohne Amerika geht es nicht

    Alles andere, da sind sich Experten sicher, wäre gefährlich für Europa: „Die EU ist nicht in der Lage, sich zu schützen – weder konventionell und schon gar nicht im nuklearen Bereich“, stellt der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Dieter Naumann, klar. In einem Vortrag vor Wehrexperten zog der Ex-General kürzlich schonungslos Bilanz: „Sicherheit für Europa gibt es nur im Bündnis mit den USA.“ Russland nehme Europa und seine globale Wirtschaftsmacht nur mit der Rückendeckung der Amerikaner ernst.

    Zu ähnlichen Schlüssen kommen Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), eines führenden Thinktanks in Berlin: Kurz- und mittelfristig könne Europa seine Sicherheit nicht ohne die USA garantieren.

    EU-Staaten geben dreimal mehr für Rüstung aus als Russland

    Auf den ersten Blick überraschend, denn die europäischen Nato-Staaten geben mit rund 250 Milliarden Euro jährlich dreimal so viel für Verteidigung aus wie Russland. Sie haben mit 1,8 Millionen Mann doppelt so viele Soldaten, wenn man die türkische Armee mitrechnet, und auf dem Papier auch mehr Kampfpanzer und mehr Kampfflugzeuge als der große Nachbar im Osten.

    Aber: Die europäischen Streitkräfte sind „überdehnt, veraltet und nicht verfügbar“, heißt es in einer Studie der Münchner Sicherheitskonferenz. Unkoordinierte Kürzungen hätten den Niedergang beschleunigt. Die Bundeswehr steht mit ihren berüchtigten Ausrüstungsmängeln also nicht allein da, ihre Defizite sind nur besonders transparent.

    Armeen Europas sind „auf Bonsai-Format geschrumpft“

    Während Russland seine Armee umfassend modernisiert hat, sind Europas Armeen „auf Bonsai-Format geschrumpft“, wie es DGAP-Verteidigungsexperte Christian Mölling genannt hat: „Alles dran, aber viel zu klein, um militärisch schlagkräftig zu sein.“

    Großes Manko ist die mangelnde Kooperation, etwa bei der Rüstungsbeschaffung: Die Europäer haben 17 verschiedene Kampfpanzermodelle, 13 unterschiedliche Luft-Luft-Raketen, 23 unterschiedliche Fregatten. Und es fehlt an gemeinsamen Kommandostrukturen und Logistik.

    Einer Attacke Russlands hätte die EU wenig entgegen zusetzen

    Planspiele amerikanischer Experten kommen auch deshalb zu dem Ergebnis, dass Russland zwar keinen großen Krieg jenseits seiner Grenze führen könnte – aber einem Angriff etwa auf das Baltikum könnten die europäischen Nato-Kräfte allenfalls wenige Tage standhalten.

    Ein solches Szenario mag nicht wahrscheinlich erscheinen – aber es geht um Drohpotenzial, das die Politik in Ost und West beeinflusst. „Eine Armee braucht man nicht nur wegen einer tatsächlichen Bedrohung, sondern um nicht herumgeschubst zu werden“, fasst es ein Nato-Diplomat zusammen.

    Frankreich hat rund 300 Atomwaffen, Großbritannien etwa 215

    Hinzu kommt die Frage der nuklearen Bedrohung. Für Ex-General Naumann ist klar: „Nur mit den USA kann Europa der nuklearen Macht Russlands begegnen und so nukleare Erpressung und im äußersten Fall Krieg verhindern.“ Russlands Arsenal umfasst 7000 Atomwaffen, das der USA 6800. Aber was, wenn Trump die nukleare Sicherheitsgarantie der USA abschwächt oder kündigt?

    Frankreich verfügt über etwa 300 Atomwaffen, Großbritannien über 215. Das könnte nach Experteneinschätzung genügen, um einen Angreifer abzuschrecken. Aber dazu müssten London und Paris ihre Nuklearpotenziale für einen europäischen Schutzschirm zur Verfügung stellen. Das scheint vorerst illusorisch, zumal London in Kürze auch noch die EU verlässt.

    Paris will seine Nuklearwaffen nicht vergemeinschaften

    Vergeblich fordert etwa der deutsch-französische Grünen-Vordenker Daniel Cohn-Bendit: „Die französische Regierung wird ihre Atomwaffen vergemeinschaften müssen.“ Alle Signale aus dem Élysée-Palast zeigen, dass dazu in absehbarer Zeit keine Bereitschaft besteht.

    Und dass sich Deutschland selbst Atomwaffen beschafft, ist politisch sicher nicht durchsetzbar und verstieße obendrein gegen den Atomwaffensperrvertrag. Deutsche Verteidigungspolitiker scheuen die Nuklear-Debatte ebenso wie die Bundesregierung oder die Nato – sie fürchten ein falsches Signal an die USA.

    Bessere Kooperation könnte bis zu 100 Milliarden Euro sparen

    Beenden lässt sich Europas sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA so schnell also nicht. Verringern aber schon. Die Europäer müssten stärker für ihre Sicherheit zusammenarbeiten: „Die EU sollte unabhängiger von Präsident Trump werden“, sagt EU-Außenpolitiker McAllister dieser Zeitung. „Militärische Fähigkeiten sollen zukünftig vermehrt gemeinsam geplant, entwickelt, beschafft und betrieben werden.“ So lasse sich Effizienz deutlich steigern.

    Sein Kollege Bütikofer betont, das Kernproblem der Europäer sei die ineffiziente Verwendung der Gelder – darum müsse sich die EU mit Vorrang darum kümmern, mehr zur gemeinsamen Sicherheit beizutragen. Die EU-Kommission hat vorgerechnet, dass sich durch vernünftige Zusammenarbeit der EU-Staaten jährlich zwischen 25 und 100 Milliarden Euro einsparen ließen.

    Ein Kurswechsel ist eingeleitet – ist er zu zaghaft?

    Tatsächlich hat die EU längst einen Kurswechsel eingeleitet. Mit einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ von 25 EU-Staaten bei zunächst 17 Projekten ist die Basis für mehr Integration gelegt. Ein europäischer Verteidigungsfonds soll Entwicklung und Beschaffung von Waffen fördern.

    Doch die bisherigen Schritte seien „viel zu zaghaft“, warnt Ex-General Naumann: Die europäischen Nato-Staaten müssten kampfkräftige Truppenteile zur Verteidigung des Bündnisgebiets zu Land, in der Luft und auf See aufstellen, einsatzbereit machen und den politischen Willen zeigen, sie auch einzusetzen.

    So könnten die Europäer bei Krisen in der Nachbarschaft eigenständiger handeln. Und die USA? Ein so gestärktes Europa, glauben Verteidigungsexperten beiderseits des Atlantiks, würde die Nato ergänzen, nicht ersetzen – und das Bündnis mit den USA stärken.