Berlin. Der Fall Özil beschäftigt Deutschland. Er fühlt sich fremdenfeindlich behandelt. Wir beantworten die wichtigsten politischen Fragen.
Am Anfang stand ein Foto. Es zeigt, wie der deutsche Fußball-Nationalspieler Mesut Özil dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan lächelnd ein Trikot seines Vereins Arsenal London überreicht.
Wie es dazu kam und warum ihm diese Begegnung wichtig war, dazu hat Özil lange geschwiegen. Nach einer heftig geführten Debatte und dem Vorrunden-Aus der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft in Russland hat er nun seinen Rückzug erklärt. Er will nicht mehr für Deutschland spielen.
In seiner online verbreiteten Erklärung nimmt Özil nicht nur zum Foto mit Erdogan Stellung, sondern klagt vor allem über Rassismus, der ihm in Deutschland generell, aber auch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) entgegengeschlagen sei.
Mesut Özil berichtet von Hassbotschaften
In den Augen von DFB-Präsident Reinhard Grindel „bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und Immigrant, wenn wir verlieren“, schreibt Özil. Er zahle Steuern in Deutschland, spende an deutsche Schulen und habe mit Deutschland die Weltmeisterschaft gewonnen, werde aber immer noch nicht akzeptiert.
Er sei für erfolgreiche Integration geehrt worden, für sein gesellschaftliches Engagement: „Aber ganz klar, ich bin nicht deutsch ...?“ Özil fragt weiter: Gibt es Kriterien, „um ein ganzer Deutscher zu sein, denen ich nicht gerecht werde“?
Özil berichtet von Hassbotschaften und schreibt: „Leute mit rassendiskriminierendem Hintergrund sollten nicht im größten Fußball-Verband der Welt arbeiten dürfen, der viele Spieler mit zwei Heimatländern hat.“
Özils Botschaft auf Twitter endet mit dem Satz: „Rassismus darf niemals akzeptiert werden.“ Doch wie rassistisch ist Deutschland wirklich? Wir beantworten die wichtigsten politischen Fragen zum Fall Özil:
Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland?
Jeder fünfte in Deutschland lebende Mensch hat einen Migrationshintergrund – das heißt, er selbst oder mindestens ein Elternteil wurde nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren. Nach den letzten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2016 sind das 18,6 Millionen Menschen oder 22,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Mehr als die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund hat die deutsche Staatsbürgerschaft, rund 40 Prozent bereits seit ihrer Geburt. Das mit Abstand wichtigste Herkunftsland ist die Türkei (drei Millionen oder 15 Prozent), gefolgt von Polen (zehn Prozent) und Russland (sechs Prozent). Rund 2,3 Millionen der hier lebenden Menschen haben im Nahen und Mittleren Osten ihre Wurzeln; das waren rund 50 Prozent mehr als noch 2011. Rund eine Dreiviertelmillion Menschen stammt aus afrikanischen Ländern.
Im Jahr 2017 wurden rund 112.000 Ausländer eingebürgert. Am häufigsten lassen sich türkische Staatsangehörige einbürgern (knapp 15.000). Weit dahinter folgen britische (7500), polnische (6600), italienische (4300) und rumänische (4200) Staatsangehörige. Von den Ausländern, die zehn Jahre oder länger in Deutschland leben und damit in der Regel alle Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen, kommt der höchste Anteil aus Kamerun (19 Prozent bei rund 1000 Einbürgerungen), gefolgt von Mexiko (17 Prozent bzw. 570 Einbürgerungen) und Syrien (13,7 Prozent bei 2500 Einbürgerungen).
Im Bundestag sind Migranten unterrepräsentiert. Nach Recherchen des „Mediendienstes Integration“ haben von 709 Abgeordneten nur 58 (acht Prozent) einen Migrationshintergrund, davon 14 einen türkischen. In der Wahlperiode davor war der Anteil der Abgeordneten mit Migrationsgeschichte mit sechs Prozent noch geringer. Am höchsten ist der Anteil in der Linksfraktion (19 Prozent), am niedrigsten in der Unionsfraktion (drei Prozent).
Wie viele fremdenfeindliche Vorfälle registriert die Polizeistatistik?
Die Statistik des Bundesinnenministeriums zum Bereich Hasskriminalität weist mehr als 6000 fremdenfeindliche Straftaten aus rechter Gesinnung für das Jahr 2017 aus, darunter knapp 800 Gewalttaten. Das ist ein leichter Rückgang im Vergleich zum Jahr 2016.
Erstmals aufgenommen in die Übersicht wurde 2017 der Bereich islamfeindliche Straftaten. Davon wurden knapp 1000 gezählt, inklusive gut 50 islamfeindlicher Gewalttaten. Die Statistik beinhaltet nur Delikte, die der Polizei auch gemeldet wurden. Zu Straftaten, die keine Gewalttaten sind, gehören vor allem Volksverhetzung, Beschimpfung, Sachbeschädigung und das Zeigen von Propagandamaterial. Laut Verfassungsschutzbericht gab es 2016 rund 23.100 Rechtsextremisten.
Welchen Alltagsrassismus gibt es in Deutschland?
Immer wieder erleben Menschen mit Migrationshintergrund, dass sie im Alltag diskriminiert werden. So hat eine Untersuchung des Spiegels und des Bayerischen Rundfunks ergeben, dass Menschen mit türkischem oder arabischem Namen bei der Wohnungssuche besonders große Schwierigkeiten haben. Sie gingen in jedem vierten Fall leer aus, in dem ein deutscher Interessent eine positive Rückmeldung auf seine Anfrage erhielt.
Auch bei der Suche nach einem Job haben es Jugendliche mit ausländischen Wurzeln schwerer, das zeigt eine von der Robert-Bosch-Stiftung geförderte Studie. Die jungen Menschen müssen deutlich mehr Bewerbungen schreiben, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Kommt es dann zur Gesprächseinladung, müssen sie sich häufiger duzen lassen als Bewerber mit einem deutschen Hintergrund.
„11 bis 13 Prozent der Deutschen, das zeigen viele Studien, sind zumindest latent rassistisch“, sagt Manfred Güllner, Chef des Umfrage-Instituts Forsa, dieser Redaktion. Dieser Wert sei konstant, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. Neu sei in den vergangenen Jahren gewesen, dass es einer Partei gelungen sei, dieses Potenzial für sich zu nutzen. Die AfD schöpfe es aus, sagt Güllner.
Der NPD oder den Republikanern sei dies nie gelungen. „Viele Menschen sind auch aus Angst Rassisten“, erläutert Güllner. Das sehe man bei den Wählern der AfD: „Denen geht es ökonomisch nicht schlecht.“ Und doch hätten sie Angst vor der Zukunft.
Fühlen sich Deutschtürken eher Deutschland oder der Türkei verbunden?
Laut einer repräsentativen Umfrage des Zentrums für Türkeistudien in Essen geben 61 Prozent der Türkeistämmigen an, sich sehr stark der Türkei zugehörig zu fühlen – nur 38 Prozent sagten das über Deutschland. 48 Prozent der Befragten identifizieren sich mit beiden Ländern – 2010 waren es noch 65 Prozent.
Haci-Halil Uslucan, Leiter des Zentrums, findet diese „hybride Identität“ menschlich verständlich. Sie sollte nicht skandalisiert oder dramatisiert werden. Es sei „kein Zeichen von Desintegration“, dass zwei Herzen in der Brust vieler Deutschtürken schlügen. Gerade objektiv besser integrierte Deutsche mit türkischen Wurzeln fühlten sich häufig nicht zugehörig, weil sie sensibel für gesellschaftliche Diskriminierung seien. Diese Befindlichkeiten, das Sich-zurückgesetzt-Fühlen, die Botschaft „Du bist keiner von uns“ machten es dem türkischen Präsidenten Erdogan leicht, die Migranten zu umwerben.
So sahen die Fußball-Stars früher aus
Wie reagieren deutsche und türkische Politiker auf Özils Vorwürfe?
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mischte sich nicht direkt in die Debatte ein. Eine Regierungssprecherin aber sagte: „Die Bundeskanzlerin schätzt Mesut Özil sehr. Mesut Özil ist ein toller Fußballspieler, der viel für die Fußball-Nationalmannschaft geleistet hat.“
Außenminister Heiko Maas (SPD) äußerte sich schon konkreter: Er glaube nicht, „dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland“.
Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) hält es für ein „Alarmzeichen“, wenn sich Özil in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt und vom DFB nicht repräsentiert fühle.
Grünen-Politiker Cem Özdemir schrieb auf Twitter: „Özils Foto bleibt falsch und seine Erklärung überzeugt nicht.“ Er kritisiert auch die DFB-Spitze: „Wollen die, dass bald junge Deutsch-Türken für Erdogan spielen?“ Für AfD-Fraktionschefin Alice Weide steht Özil „für gescheiterte Integration von viel zu vielen Einwanderern aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis“.
Im Umfeld des türkischen Präsidenten Erdogans gab es Applaus für Özil. Justizminister Abdulhamit Gül schrieb beispielsweise auf Twitter: „Ich gratuliere Mesut Özil für das schönste Tor, das er mit dem Verlassen des deutschen Nationalteams gegen das Virus des Faschismus erzielt hat.“ Sportminister Mehmet Kaspoglu nannte Özil einen „Bruder“: „Wir unterstützen von ganzem Herzen die ehrenhafte Haltung, die unser Bruder Mesut Özil gezeigt hat.“