Brüssel. Theresa May ist nach zwei Rücktritten innerhalb von zwei Tagen deutlich angeschlagen. Dennoch pokert sie in Brexit-Verhandlungen hoch.

Die britische Premierministerin hat sich viel Zeit gelassen, zu viel vermutlich: Seit Monaten drängt die EU darauf, Theresa May möge doch endlich ein Konzept für den Austritt ihres Landes aus der EU vorlegen. Jetzt endlich lässt sich May in die Karten blicken, nur acht Monate vor dem Brexit peilt sie den Kurswechsel hin zu einem teilweise sehr sanften Ausstieg an – und schon gerät die britische Regierungschefin in schwerste Turbulenzen.

Der Rücktritt ihres Außenministers Boris Johnson ist ein gefährlicher Schlag für sie, weit härter noch als der unmittelbar vorangegangene Abschied von Brexit-Minister David Davis. Am Ende dieser Misstrauens-Demons­trationen könnte ein Sturz der Premierministerin stehen oder ein Kollaps der gesamten Regierung – wenn die Rücktritte der Auftakt für eine Revolte bei den Tories sind, denen zum Teil die gesamte Verhandlungslinie nicht mehr passt.

May hatte freilich keine andere Wahl. Die Uneinigkeit im eigenen konservativen Lager hat die Verhandlungen seit Monaten gelähmt. Für einen harten Brexit ist es schon zu spät, die Vorbereitungen darauf hätten längst beginnen müssen; jetzt würde die britische Wirtschaft in ein Desaster stürzen. May musste handeln – und die schwelende Machtfrage endlich klären. Es ist allerdings fraglich, dass ihr neuer Kurs auch jenseits der britischen Unternehmerschaft genügend Anhänger findet, um ihre Regierung zu stabilisieren.

Theresa May will Mischung aus hartem und weichem Brexit

Was ihr vorschwebt, ist eine Mixtur aus weichem und hartem Austritt, die Flucht in einen halben Binnenmarkt. May probiert in ihrer Not jenes Rosinenpicken, dem die EU bislang standhaft eine Absage erteilt hat. Großbritannien würde die Vorteile einer Freihandelszone für Industrie- und Agrarprodukte genießen und – zum Grauen der Brexit-Befürworter – die EU-Regeln und Standards vollständig akzeptieren. Aber Dienstleistungen und Arbeitnehmerfreizügigkeit würden nicht unter dieses Abkommen fallen.

Nur: Die EU hat den vollen Zugang zum Binnenmarkt immer verknüpft mit der Verpflichtung auf alle vier Grundfreiheiten, die den freien Warenverkehr, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr umfassen. Auf dieser Basis etwa steht das Abkommen mit Nicht-EU-Mitglied Norwegen, das sogar Milliarden in den EU-Haushalt einzahlt, ohne in Brüssel mitbestimmen zu dürfen.

Wer das nicht will, so das Brüsseler Credo, kann gern ein Freihandelsabkommen schließen zu jenen Bedingungen, die auch für jedes andere Drittland gelten. So stehen extrem schwere Verhandlungen zwischen London und Brüssel bevor – wenn es überhaupt dazu kommt.

EU hat kein Interesse am Sturz von Theresa May

Andererseits: Sollte die Premierministerin ihren Kurswechsel in London politisch überleben, gäbe es nun immerhin eine britische Position, über die sich im Eiltempo reden ließe.

Die Brüsseler Brexit-Verhandler sind im Dilemma: Die EU vermeidet ein schroffes Nein, das eigentlich fällig wäre, weil sie kein Interesse daran hat, dass May stürzt und die Befürworter eines harten Brexit Oberwasser bekommen. Viel Spielraum andererseits gibt es in Brüssel kaum, soll nicht die bisherige Strategie völlig über den Haufen geworfen werden. Die EU kann und will Großbritannien nicht Privilegien einräumen, die sie anderen Europäern verweigert.

Premierministerin May weiß das, aber sie pokert jetzt hoch. Die Kraft, den Briten reinen Wein einzuschenken, hat sie aber längst nicht mehr. Dabei ist offenkundig, was sie ihren Bürgern zu sagen hätte: Dieser Brexit ist ein großer, tragischer Irrtum.