Berlin. Das politische Erbe von Schulz scheint Scholz und Nahles egal zu sein. Für die einst stolze Europa-Partei ist das ein Armutszeugnis.

Sigmar Gabriel brachte die Lage bereits im vergangenen Sommer im Wahlkampf auf den Punkt. Bei der Reform der Europäischen Union stehe es 10:0 für Frankreich, sagte Gabriel, damals noch populärer Außenminister. Inzwischen ist Gabriel sein Amt los. Dieses Schicksal teilt Martin Schulz mit ihm. Doch der zurückgetretene SPD-Vorsitzende hinterließ immerhin im Koalitionsvertrag ein respektables europapolitisches Erbe.

„Ein neuer Aufbruch für Europa“ lautet die Überschrift des Koalitionsvertrages, der erst sechs Wochen alt ist. Das Europa-Kapitel, das Schulz federführend der CDU-Chefin Angela Merkel und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer in den Marathon-Verhandlungsnächten abrang, war eines der zentralen Versprechen, mit denen die SPD-Spitze die Parteimitglieder erfolgreich in eine neue große Koalition lockte.

Europa-Bekenntnisse von Olaf Scholz sind Lippenbekenntnisse

Dann blieb der überforderte „Mister Europa“ Schulz auf der Strecke – und mit ihm offensichtlich der Wille der Sozialdemokraten, an der Seite von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Kanzlerin zu echten Zugeständnissen für Europa zu zwingen. Die Europa-Bekenntnisse des Bundesfinanzministers und Vizekanzlers Olaf Scholz jedenfalls sind bislang reine Lippenbekenntnisse.

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    Ein paar Milliarden Euro mehr würde er lockermachen, um das durch den Brexit entstehende Loch im EU-Haushalt zu stopfen. Von einem eigenen Euro-Finanzminister etwa, wie von Macron vorgeschlagen, wollen Scholz und Nahles längst nichts mehr wissen. Eher pflichtschuldig klingen die Worte von Andrea Nahles, mit denen sie ihren Unmut über rote Linien der Unionsfraktion zum Ausdruck brachte. CDU und CSU sollten doch bitte kein Fass aufmachen, mahnt sie. Über die Details könne man natürlich reden.

    AfD und FDP machten mit Europa-Skepsis erfolgreich Wahlkampf

    Genau diese Details sind es aber, mit denen die Merkel-Kritiker in CDU und CSU die Europa-Pläne von Macron zerstören wollen. Die Union weiß spätestens nach den unzähligen Griechenland-Krisenhilfen, dass mehr Macht für Brüssel und mehr deutsches Geld für Krisenländer bei den Wählern ungefähr so populär sind wie Steuererhöhungen. AfD und FDP haben das früher als die Koalitionäre entdeckt.

    Sie machten mit der Europa-Skepsis erfolgreich Wahlkampf. Scholz und Nahles erwecken nicht mehr den Eindruck, als ob sie für Europa wirklich kämpfen wollen. Mit „solidem Regieren“ an der Seite der Kanzlerin wollen sie Zeit für eine nationale Erneuerung der 20-Prozent-SPD gewinnen. Für die einst stolze Europa-Partei ist das ein Armutszeugnis.

    Zum Sonderparteitag der SPD will auch Martin Schulz kommen

    An diesem Sonntag will Nahles auf einem Sonderparteitag in Wiesbaden als erste Frau an die SPD-Spitze gewählt werden. Wie werden es die Delegierten finden, dass das eben noch umjubelte Europa-Kapitel von der Union geschreddert wird? Nahles’ Gegenkandidatin, die Kommunalpolitikerin Simone Lange, nutzt geschickt den an der Basis verbreiteten Unmut über die Parteispitze. Lange wird zugetraut, Nahles beim Parteitag bis zu 20 Prozent der Stimmen zu „klauen“.

    Nach Wiesbaden will auch Martin Schulz kommen. Nach seinem unfreiwilligen Karriereende mit dem Verzicht auf Parteivorsitz und Außenministeramt hatte sich der glücklose Buchhändler aus Würselen ein Schweigegelübde auferlegt. Nun darf man gespannt sein, ob er beim Parteitag die Chance nutzt, um Nahles und Scholz (denen er eine Mitschuld an seinem beispiellosen Untergang gibt) ein paar harsche Europa-Takte zu sagen. Grünen-Chefin Annalena Baerbock glaubt, dass es schon zu spät ist: „Mit Schulz ist offensichtlich der letzte Europäer der GroKo von Bord gegangen.“