Die SPD hat sich für ein neues Bündnis mit der Union entschieden. Die Diskussion über ihren Kurs ist aber noch lange nicht vorbei.

Keine Hand rührt sich. Kein Klatschen, kein Jubel, kein Stöhnen. Nichts. Gerade hat Dietmar Nietan, der Schatzmeister und Chef der Zählkommission, nach sechs Monaten politischen Stillstands und einer langen Nacht des Auszählens das für Deutschland und die SPD-Führung erlösende Ergebnis bekannt gegeben. 239.604 Genossen haben Ja zur großen Koalition gesagt. Das sind 66,02 Prozent der Parteimitglieder, die beim Basisvotum mitgemacht haben. Eine satte Mehrheit, vor wenigen Wochen noch wäre das kaum denkbar gewesen.

Aber es gibt keinen Applaus im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale in Berlin-Kreuzberg, auf die an diesem Sonntag sogar international viele gebannt blicken. Selbst bei der CDU wären sie in so einem historischen Moment wahrscheinlich mit einem Deutschland-Fähnchen um die Kanzlerin herumgehüpft, bei so einem klaren Ergebnis. Oder wollen die GroKo-Anhänger aus Rücksicht auf das unterlegene Nein-Lager auf triumphierende Gesten verzichten? Die SPD, die 154 Jahre alte Drama-Queen der deutschen Parteien, quält sich jedenfalls in die dritte GroKo seit 2005.

SPD hat Merkel einiges abgepresst

So guckt und spricht auch Olaf Scholz. Er steht links neben Nietan an einem zweiten Pult. Noch-Bürgermeister Scholz wirkt fast so, als müsste er den Abstieg des Hamburger SV erklären. „Wir haben jetzt Klarheit: Die SPD wird in die nächste Bundesregierung eintreten“, liest der kommissarische Parteivorsitzende mit heiserer Notar-Stimme ab. Seine Partei sei in der Diskussion über den Koalitionsvertrag zusammengewachsen und habe nun auch Kraft für die Erneuerung.

Scholz und die designierte Parteichefin Andrea Nahles sind in den vergangenen Wochen durch die Republik getingelt, um wankelmütigen Genossen die Vorzüge des 177-seitigen Koalitionsvertrages näherzubringen. Die SPD-Spitze hatte Kanzlerin Angela Merkel in langen Verhandlungsnächten einiges abgepresst. Sechs Ministerien, darunter die Schwergewichte Finanzen, Außen und Arbeit. Dazu viele Milliarden für Familien, Alleinerziehende, Rentner und die Bildung.

Viele dürften aus Vernunft mit Ja gestimmt haben

Den Rest an Überzeugungsarbeit haben die miesen Umfragen erledigt. Welcher halbwegs besonnene Genosse wollte es wohl verantworten, seine Partei in eine Neuwahl zu schicken, um womöglich hinter der AfD zu landen? So hören sich 66 Prozent komfortabel an. Viele Ja-Sager dürften aber aus reiner Vernunft ihr Ja-Kreuz gemacht haben. Die SPD wirkt vor dem Start der neuen Bundesregierung tief gespalten.

Davon will Michael Groschek nichts hören. Der nordrhein-westfälische Landeschef hat, wie die meisten Vorstandsmitglieder, die Nacht in einem Hotel an der Spree verbracht. Dort tagte der Vorstand das ganze Wochenende, um Pläne für die Erneuerung der Partei zu schmieden. Als die 66 Prozent bekannt sind, setzt sich Groschek in sein Auto und fährt zum Willy-Brandt-Haus.

Spaltung? Ach was. „Das ist keine Spaltung, das ist lebendige Demokratie“, sagt er. Groschek muss es wissen. Sein Sohn Jesco, Mitglied im NRW-Juso-Vorstand, stellte sich politisch gegen den Vater und warb für ein Nein. Mit großer Sorge hatte die Parteiführung in den Westen geschaut. Die Stimmung im größten Landesverband mit seinen 115.000 Mitgliedern galt als unberechenbar und Gefahr für die GroKo.

Gabriel dürfte aus erster Reihe verschwinden

Nun aber haben doch viel mehr Genossen als gedacht an Rhein und Ruhr den Rücken gerade gemacht und damit auch Nahles, Scholz und Groschek gerettet. „Bei der SPD ist wieder Leben in der Bude“, behauptet Groschek. Gemessen an den Umfragewerten ist die rote Bude aber nur noch 16 Quadratmeter groß. Lässt das einer mit sich selbst hadernden Partei genug Raum, in den nächsten vier Jahren unter Merkel gut zu regieren und sich dabei selbst neu zu erfinden? Die SPD besitzt ja die Gabe, gleichzeitig regieren und opponieren zu wollen.

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    Wer für die SPD ins Kabinett einzieht, soll in einigen Tagen feststehen: „Ich denke, zum nächsten Wochenende werden wir Klarheit haben“, sagte Scholz dem „Hamburger Abendblatt“. Er, der aus Hamburg als Finanzminister und Vizekanzler nach Berlin wechselt, verrät am Sonntag nur so viel: drei Männer und drei Frauen, darunter bekannte (wie Heiko Maas und Katarina Barley) und neue Gesichter. Eines dürfte nicht mehr in der ersten Reihe zu sehen sein: Sigmar Gabriel.

    Der Außenminister und Ex-Parteichef liegt mit Nahles und Scholz über Kreuz. Seit er seine Tochter Marie benutzte, um Martin Schulz zu attackieren („Mann mit Haaren im Gesicht“), ist Gabriel in der Partei trotz glänzender Popularitätswerte so richtig unten durch. Noch kämpft der Goslarer. Es wäre ein Zeichen von Souveränität, wenn Nahles über ihren Schatten springen und Gabriel im Außenamt lassen würde, flüstern treue Gabriel-Anhänger.

    Gabriel spricht von „Fest der innerparteilichen Demokratie“

    Der langjährige Parteichef meldet sich nach der Abstimmung selbst zu Wort. Der Mitgliederentscheid sei „ein Fest der innerparteilichen Demokratie“ gewesen. Die SPD-Mitglieder hätten sich „nicht erschrecken oder entmutigen“ lassen. „Es war eine wirklich respektvolle Diskussion“, betont Gabriel, der 2013 Architekt der damaligen GroKo war und die Basisbefragung zum Standard gemacht hat.

    Die SPD hat es sich auch dieses Mal nicht leicht gemacht. Weder inhaltlich noch organisatorisch. Eine Million Euro kosteten die zwei GroKo-Parteitage, 1,5 Millionen Euro der Mitgliederentscheid. Am Samstag, um 16.51 Uhr, war unter Polizeischutz ein gelber Post-Laster mit dem Kennzeichen BN-PJ 6229 am Willy-Brandt-Haus vorgefahren. Auf Paletten hinter Klarsichtfolie ruhten Dutzende rote Boxen mit den mehr als 378.000 eingeschickten Stimmzetteln.

    In der Nacht liefen dann zwei Hochleistungsschlitzmaschinen vom Typ OL 1000 plus heiß. Die Spezialgeräte öffneten 20.000 Briefe pro Stunde. Die Stimmzettel wurden dann von 120 SPD-Mitgliedern ausgezählt, die sich freiwillig gemeldet hatten. Auch der Opa von Juso-Chef Kevin Kühnert machte mit. „Stramm No-GroKo und nachweislich unbestechlich“, wie der Enkel betonte.

    Helfer machten Nachtschicht

    Klara Schweitzer und Melanie Geigenberger waren in den entscheidenden Stunden ebenfalls hautnah dabei. Die Studentinnen aus München bekamen für zwölf Stunden Nachtschicht kein Geld, die SPD bezahlte ihnen nur die Fahrkarte. Ihre Handys mussten sie abgeben, damit keine Zwischenergebnisse bei Twitter oder Facebook auftauchen.

    Nach Bekanntgabe des Ergebnisses stehen die beiden Frauen am Sonntag etwas deprimiert im Willy-Brandt-Haus neben der Bronze-Statue des berühmten Vorsitzenden. Sie selbst haben gegen die GroKo gestimmt. Die 27 Jahre alte Geigenberger, die Druck- und Medientechnik studiert, sagt, in der Nacht sei ihnen beim Auszählen der Stimmkarten rasch klar geworden, dass das No-GroKo-Lager die Abstimmung verlieren würde. „Das kriegt man irgendwann mit. Wenn bei der dritten Fuhre Stimmkarten zwei Drittel für die GroKo sind, tja.“ Beide bedauern den Ausgang, wollen das Ja aber respektieren. Die 25-jährige Sozialwissenschaftsstudentin Schweitzer tippt zum Abschied noch mal auf ihren selbst gemachten Button: „… still not loving GroKo“, steht darauf. So dürften viele in der SPD fühlen – 66 Prozent hin oder her.