Berlin. CDU, CSU und SPD wollen im Fall einer Groko keine neuen Schulden machen. Allerdings planen sie Geld ein, das sie gar nicht haben.

Von CDU-Politiker Jens Spahn ist ein flapsiger Spruch über den neuen Koalitionsvertrag überliefert. Es sei „alles wie immer, nur teurer“, soll Spahn gesagt haben, als er aus den Verhandlungen kam.

Tatsächlich enthält die Vereinbarung zwischen Union und SPD milliardenschwere Ausgaben für die kommenden vier Jahre. Die Vorhaben, die beide Seiten für besonders wichtig halten, sind in einer Tabelle auf Seite 67 des Vertrags aufgelistet. Sie summieren sich bis zum Jahr 2021 auf insgesamt 46 Milliarden Euro.

Zusätzliche Milliarden-Ausgaben

Das aber ist längst nicht alles. Vieles, was die Koalitionäre auf den 177 Seiten des Vertrags vereinbart haben, steht gar nicht in der Tabelle. Dazu gehören die umstrittene Mütterrente, die geplante Grundrente für Geringverdiener oder die höheren Zuschüsse an Krankenkassen für Hartz-IV-Empfänger.

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    Alles in allem, so schätzen Haushaltspolitiker, kommen auf den Bundeshaushalt in den nächsten Jahren zusätzliche Ausgaben in Höhe von 100 Milliarden Euro zu – also rund das Doppelte der Summe, die aus heutiger Sicht nur zur Verfügung steht. Wie das zum Versprechen von Union und SPD passt, keine neuen Schulden zu machen und an der „schwarzen Null“ festzuhalten, ist bislang unklar.

    Solidaritätszuschlag soll abgeschafft werden – das kostet

    Dabei plant die GroKo noch nicht einmal eine große Steuerreform. Ganz am Ende der Wahlperiode soll der Solidaritätszuschlag für zehn Milliarden Euro teilweise abgeschafft werden. Eine weitere Erleichterung bei der Steuerbelastung steht zwar im Vertrag, ist aber nicht weiter beziffert: der Abbau der „kalten Progression“.

    Damit ist das Phänomen gemeint, dass die Steuerbelastung eines Arbeitnehmers quasi durch die Hintertür steigt. Das passiert dann, wenn eine Lohn- oder Gehaltserhöhung nicht nur durch die Inflation, sondern auch durch einen höheren Durchschnittssteuersatz ganz oder teilweise zunichte gemacht wird.

    Damit Einkommensteigerungen nicht auf diese Weise verpuffen, wurde der Effekt seit 2015 regelmäßig ausgeglichen: Der Einkommensteuertarif wurde jedes Jahr um den Wert der Inflation korrigiert. Das Pro­blem: Die Kosten dafür sind auf den 177 Seiten des Vertragswerks an keiner Stelle vermerkt oder einkalkuliert.

    Finanzexperte: Die Werte müssten im Koalitionsvertrag auftauchen

    Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat nachgerechnet und kommt zu dem Ergebnis: Dem Bundeshaushalt fehlen durch diesen Abbau der kalten Progression bis zum Ende der Wahlperiode bis zu neun Milliarden Euro. Rechnet man die Einnahmeausfälle hinzu, die Bundesländern und den Gemeinden bei der Einkommensteuer entstehen, sind es sogar bis zu 21 Milliarden Euro.

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      „Im Sinne einer soliden Finanzplanung müsste dieser Wert auch im Finanztableau des Koalitionsvertrags auftauchen“, sagte IW-Finanzexperte Martin Beznoska dieser Redaktion. Wenn die gute Konjunktur in den nächsten Jahren nicht noch zusätzliche Steuereinnahmen bringe, müsse eine neue Bundesregierung sonst an anderer Stelle sparen oder geplante Ausgaben zurückstellen, so der Experte.

      Neue Schulden wären eine Alternative, aber die lehnen Union und SPD explizit ab. Sie wollen an der „schwarzen Null“ und einem ausgeglichenen Bundeshaushalt festhalten.

      „Die Mittelschicht vor Steuerbelastungen schützen“

      Die für Haushalt und Finanzen zuständige SPD-Fraktionsvizechefin Christine Lambrecht kündigte an, weiter gegen die kalte Progression kämpfen zu wollen: „Selbstverständlich haben wir einen Blick auf die kalte Progression und halten an der bewährten Praxis fest“, sagte sie dieser Redaktion.

      Das künftig von der SPD geführte Finanzministerium werde voraussichtlich im Herbst wieder einen Bericht zur Entwicklung der kalten Progression vorlegen. Auch der haushaltspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Eckhardt Rehberg, will auf jeden Fall an dem von Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eingeführten Verfahren zum Abbau der kalten Progression festhalten.

      Dies sei „auch in den nächsten Jahren politisch geboten, um gerade die Mittelschicht vor inflationsbedingten Steuerbelastungen zu schützen“, sagte Rehberg. Länder und Kommunen, die einen Teil der Einkommensteuer erhalten, müssten aber ihren Anteil dazu beisteuern.

      Kritik von der FDP

      In Koalitionskreisen wird eingeräumt, dass die Bekämpfung der kalten Progression viel Geld kosten wird, das nicht im Koalitionsvertrag berücksichtigt ist. Die vom IW errechneten Werte seien aber zu hoch. Orientiere man sich an den vergangenen Jahren, koste die Korrektur des Steuertarifs bis 2021 ungefähr 15 Milliarden Euro. Der Anteil des Bundes betrage dann sieben Milliarden Euro, nicht neun Milliarden.

      Kritik an den Plänen der Koalition kommt von der FDP. Deren Fraktionsvize Christian Dürr hält die Ankündigung nur für ein „Lippenbekenntnis“. Dürr spielt darauf an, dass der Bundesfinanzminister bisher immer wieder neu entscheidet, ob er die kalte Progression ausgleicht oder nicht. Die FDP fordert deshalb einen „Steuertarif auf Rädern“, der sich automatisch an Inflation und steigende Löhne angleicht.