München/Berlin. Außenminister Sigmar Gabriel nutzt die Bühne in München und wirbt für ein stärkeres Europa und den Ausbau der Gespräche mit der Türkei.

Nein, wie ein Außenminister auf Abschieds-Tour sieht Sigmar Gabriel nicht aus. Im Gegenteil.

Es scheint, als wusele er derzeit mehr denn je auf allen diplomatischen Bühnen. Innerhalb weniger Tage besucht er EU-Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan, trifft sich mit seinen europäischen Amtskollegen in Sofia. Und schließlich jettet er zur Münchner Sicherheitskonferenz, dem Stelldichein der Großen und Mächtigen der internationalen Politik an diesem Wochenende. Er spricht mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim. Vom öffentlich ausgetragenen Zwist mit seinem Fast-Nachfolger Martin Schulz und dem Knatsch mit der SPD-Spitze ist nichts zu spüren. Jedenfalls lässt sich Gabriel nichts anmerken.

Am Sonnabend eröffnet der geschäftsführende Außenminister die Konferenz. Gabriel holt zum großen politischen Wurf aus. Die Welt stehe auf Grund der abnehmenden Rolle der USA an einem gefährlichen Abgrund, mahnt er. „Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind derzeit anscheinend die knappsten Güter in der internationalen Politik.“ Er redet ruhig, mit fester Stimme, wohl wissend, dass alle Fernsehkameras in diesem Moment auf ihn gerichtet sind.

„Gewichte in der Welt werden sich massiv verschieben“

Der SPD-Politiker spannt den Krisenbogen von Nordkorea bis in den Nahen Osten. Der Syrien-Konflikt bewege sich nach sechs blutigen Jahren als Bürger- und Stellvertreterkonflikt in eine Richtung, „die akute Kriegsgefahr selbst für unsere engen Partner“ bedeute.

Der Außenminister warnt vor einer naiven Betrachtung des „Seidenstraßen“-Projekts der Regierung in Peking, die damit den Handel zwischen Zentralasien und Europa vorantreiben will. „Mit dem Aufstieg Chinas werden sich die Gewichte in der Welt massiv verschieben“, betont Gabriel. Die „Systemalternative“ Chinas entspreche nicht den westlichen Vorstellungen von einer liberalen Weltordnung.

„Die EU ist ein selbstbewusster Partner der USA - aber kein Gefolgschaftsverband“

Als Gegenmodell preist er die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Garant von Multilateralismus, Menschenrechten und Freihandel aufgetreten seien. Es ist allerdings ein Loblied auf das alte Amerika unter Präsidenten wie George H.W. Bush, dem Förderer der deutschen Wiedervereinigung, oder Bill Clinton. In der Ära von Donald Trump stehen die Zeichen hingegen auf „America-First“-Nationalismus und Protektionismus. Gabriel macht sich für die transatlantische Zusammenarbeit stark, aber nicht bedingungslos: „Die EU ist ein selbstbewusster Partner, der vertrauensvoll und auf Augenhöhe mit den USA kooperieren will, aber nicht als Gefolgschaftsverband.“

Die Stärkung Europas - auch in militärischer Hinsicht - ist der Kern von Gabriels Münchner Rede. Die EU sei nicht als „Weltmacht“ gegründet worden, sondern als „Projekt der inneren Aussöhnung“. Es gebe keine Region auf der Welt, in der es gelungen sei, aus „Feinden“, die sich gegenseitig bekriegt haben, erst „Partner“, dann „Freunde“ werden zu lassen, sagt der Außenminister. An diesem Punkt hebt sich seine Stimme, die Augen werden feucht. Man spürt, Europa ist ein Herzensanliegen, an dessen Weiterentwicklung er gern mitarbeiten würde.

SPD-Fraktionschefin Nahles warnt Gabriel vor „Kampagne für sich selbst“

Gabriel bekommt kräftigen Applaus für seine Rede. Es sind Tage, an denen er mit öffentlicher Zustimmung überschüttet wird wie selten. Er ist in den Umfragen der populärste Politiker in Deutschland. Doch in seiner eigenen Partei stößt er auf massive Vorbehalte.

Andrea Nahles und Olaf Scholz, das neue Spitzen-Duo in der SPD, haben unter dem früheren Parteichef Gabriel gelitten und wollen ihn nicht in der künftigen Regierungsmannschaft haben. Nahles warf ihm im „Spiegel“-Interview Extra-Touren vor, sich indirekt für eine Fortsetzung seiner Amtszeit zu bewerben: „Es ist jetzt nicht die Zeit, dass Einzelne eine Kampagne für sich selbst starten“, feixte die designierte SPD-Chefin. Die Querschüsse aus dem Lager der Genossen kommen in einer Zeit, als der Außenminister mit der Freilassung des deutsch-türkischen „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel seinen größten diplomatischen Erfolg einfährt.

Bei der Frage nach seiner Zukunft stapelt der Außenminister tief

Natürlich hat der Polit-Profi Gabriel die Gunst der Stunde erkannt. Am Freitag fliegt er schnurstracks von München nach Berlin und lässt sich in der „Welt“-Redaktion, eingerahmt von Chefredakteur Ulf Poschardt und dem Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner feiern. Doch das ist nur der mediale Moment. Dahinter steckt viel mehr. Das heftige deutsch-türkische Zerwürfnis, das in der Inhaftierung Yücels gipfelte, hat Gabriel durch Gespräche mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zunächst entkrampft. Außerdem hat er zu seinem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu einen engen Draht aufgebaut, der sich nun offenbar auszahlt.

Politik, das hat der frühere Chef der Abteilung Attacke Gabriel gelernt, ist nicht nur das markige Spiel mit Worten. Weiche Faktoren wie Tonlage, Atmosphäre, Respekt für das Gegenüber bringen oft mehr als das publikumswirksame Abwatschen unbeliebter Akteure. Es gelte nun, „dieses Momentum“ und „alle Gesprächsformate“ mit der Türkei wieder zu beleben. Der Außenminister sieht den Etappensieg im Fall Yücel als Beginn eines politischen Marathonlaufs - trotz aller Probleme mit der Türkei bei Rechtsstaat und Meinungsfreiheit.

Fragen, ob sich seine Chancen, im Amt zu bleiben, durch Yücels Heimkehr nach Deutschland nicht verbessert hätten, bügelt Gabriel ab. Er bemüht sich vielmehr um größtmögliche Demut. Der Außenminister weiß, dass sein politisches Schicksal am seidenen Faden hängt. Da wäre es kontraproduktiv, die ohnehin hypernervöse SPD-Führung zu provozieren. Bei einem Frühstück des Ost-Ausschusses auf der Münchner Sicherheitskonferenz stapelt Gabriel betont tief. An die Adresse seines russischen Amtskollegen Sergej Lawrow witzelt er über die unterschiedlichen Amtszeiten der beiden Chef-Diplomaten: „Er ist 13 Jahre im Amt, jetzt sind’s demnächst 14. Sergej, ich bin nicht sicher, ob ich 14 Monate schaffe.“