Berlin/Istanbul. Nach mehr als einem Jahr in Haft darf der Journalist Deniz Yücel das Gefängnis und die Türkei verlassen. Die Anklage bleibt bestehen.

Es ist 11.22 Uhr. Als die Nachricht am Freitag die Runde macht, befindet sich

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noch in einem Gefängnisgebäude. Er ist frei. „Endlich hat das Gericht die Freilassung meines Mandanten beschlossen“, twittert Anwalt Veysel Ok. Ein Gericht in Istanbul hat verfügt, dass der deutsch-türkische Journalist aus der Haft entlassen wird.

Nach über einem Jahr im Knast wird er erst jetzt erfahren, was ihm vorgeworfen wird. Formal ist das Verfahren gegen ihn nicht zu Ende. Rein juristisch kommt es jetzt erst in Gang. Aber wenigstens soll sich der „Welt“-Korrespondent wieder frei bewegen können – auch nach Deutschland.

Mit einem Petersilienstrauß empfangen

Gegen 13.40 Uhr twittert der Anwalt ein Foto von Yücel und seiner Frau Dilek Mayatürk, die er im April 2017 im Gefängnis geheiratet hatte. Direkt vor der Justizvollzugsanstalt liegen sie sich in den Armen und lächeln erleichtert.

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Yücel ist auf dem Weg zum Flughafen, als Außenminister

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(SPD) um 16.20 Uhr im Newsroom der „Welt“ in Berlin vor die Kameras tritt. Das Wiedersehen mit der Familie im hessischen Flörsheim und der Redaktion in Berlin naht. „Was für ein Tag“, bemerkt Springer-Konzernchef Mathias Döpfner. „Wir sind sehr glücklich, wir haben Deniz jeden Tag vermisst“, sagt „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt.

Ihm wird der Prozess gemacht, Yücel drohen 18 Jahre Haft

Die Freilassung kommt nicht wirklich überraschend. Sie wurde seit Tagen erwartet. Viele wissen die Zeichen zu deuten, aber schweigen rücksichtsvoll. Seit Langem mehren sich die Hinweise, dass es im Fall Yücel Bewegung gibt. In den vergangenen Monaten hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kaum über Yücel geäußert.

Gabriel drängt auf weitere Freilassungen in der Türkei

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    Andere Deutsche waren in der Zwischenzeit freigelassen worden, darunter der Menschenrechtler Peter Steudtner und die Journalistin Mesale Tolu. Zuletzt hatten viele Politiker betont, dass sie den Dauerkonflikt mit der Bundesregierung beenden wollen, allen voran Ministerpräsident Binali

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    . Beide Seiten würden gemeinsam Schritte unternehmen, um ihre Beziehungen zu verbessern. „So Gott will, werden sie besser werden“, beteuert Yildirim.

    Yücels Freilassung ist Startpunkt für einen Neuanfang

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    geworden – nun wird seine Freilassung zum Startpunkt für einen Neuanfang. „Ich freue mich sehr über diese Entscheidung der türkischen Justiz“, sagt Gabriel, „das ist ein guter Tag für uns alle.“

    Einen Deal, über den spekuliert wird, dementiert der Minister. Zweimal hatte er sich mit Erdogan getroffen. Auch Altkanzler Gerhard Schröder war in der Türkei als Türöffner unterwegs. Es ist ein diplomatischer Erfolg, für Gabriel womöglich sein letzter im Amt. Merkel würdigt seinen Einsatz.

    Er dankt seinerseits der türkischen Regierung. Wofür? Für die Unterstützung bei der „Verfahrensbeschleunigung“. Er habe viele Gespräche geführt, die Regierung habe Wert darauf gelegt, dass sie keinen Einfluss auf die Gerichtsentscheidung nehmen werde. „Die Unabhängigkeit der Gerichtsentscheidung war immer zentrales Anliegen.“

    „Das ist seine Entscheidung“

    Man wüsste zu gern, was bei Yücel überwiegt: Die Erleichterung darüber, das Hochsicherheitsgefängnis Siliviri 70 Kilometer westlich von Istanbul verlassen zu können, oder die Empörung über die Farce vom Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz. Sein Zellennachbar, mit dem er sich wegen der Einzelhaft nur brüllend von Hof zu Hof unterhalten konnte, war ausgerechnet ein Richter.

    Merkel freut sich über die Freilassung von Deniz Yücel

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      „Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr. Nicht weniger“, beteuert Yücel immer wieder. Den Prozess wird er bekommen. Das Gericht nahm die Anklageschrift der Istanbuler Staatsanwaltschaft an, in der laut Nachrichtenagentur Anadolu 18 Jahre Haft gefordert werden.

      Jetzt erst wird der Journalist erfahren, was ihm konkret zur Last gelegt wird; und das Risiko taxieren müssen, ob er sich dem Prozess stellt oder sich ihm entzieht. „Das ist seine Entscheidung“, so Gabriel. Erst am Freitag verhängte ein Gericht gegen sechs türkische Journalisten lebenslange Strafen.

      Am 14. Februar 2017 wird Yücel in Polizeigewahrsam genommen

      Die Frage ist, wie schnell die Bundesregierung zur Tagesordnung übergehen will oder kann. „Wir werden nicht vergessen und uns weiter dafür einsetzen, dass auch alle anderen zu Unrecht inhaftierten Deutschen in der Türkei so schnell wie möglich wieder in Freiheit sein werden“, beteuert SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Das klingt nicht nach einer Schwamm-drüber-Haltung.

      Am 14. Februar 2017 wird Yücel in Polizeigewahrsam, 13 Tage später in Untersuchungshaft genommen und am 1. März in das Gefängnis in Silivri verlegt. Zum Verhängnis können ihm mutmaßlich zwei Artikel vom Dezember 2016 geworden sein.

      Yücel berichtete über angeblich kompromittierende E-Mails des Erdogan-Schwiegersohns und Energieministers Berat Albayrak, die bei Wikileaks nachzulesen waren. Dabei geht es um die Kontrolle türkischer Medienkonzerne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch fingierte Nutzer im Kurznachrichtendienst Twitter.

      Sechs türkische Journalisten werden festgenommen

      Brisant sind diese Mails vor allem, weil sie das unmittelbare Umfeld von Staatschef Erdogan betreffen. Im Zusammenhang mit der E-Mail-Affäre werden sechs türkische Journalisten festgenommen. Der gängige Vorwurf sind Verbindungen zu Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Als Yücel erfährt, dass auch gegen ihn ermittelt wird, stellt er sich.

      Gabriel geht davon aus, dass Yücel die Türkei verlassen wird

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        Für ihn beginnt ein Martyrium (Poschardt), eine dunkle Zeit. In den Folgemonaten ist das Gefühl wichtig, „dass ich nicht alleine bin“. Seine Redaktion, Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“, aber auch die Bundesregierung reizen alle Möglichkeiten des Protestes, der Einflussnahme aus, ganz zu schweigen von seinen Anwälten, die das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Der öffentliche Druck ist groß und wird durchgehalten.

        Seinen Humor lässt er sich nicht nehmen

        Silivri ist nicht irgendein Gefängnis. Es ist ein monströser Komplex, ein Knast der Superlative, mit 10.000 Plätzen die größte Haftanstalt Europas. Yücel sitzt im Abschnitt Nummer 9 in Einzelhaft. Keinen gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und keine Rasierklingen.

        Auf den Sportplatz darf er, aber auch dort ist er allein. „Vorteil: Ich verlasse den Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein“, schreibt Yücel aus der Zelle. Seinen Humor lässt er sich nicht nehmen.

        Die Aufseher schließen morgens die Tür zu seinem kleinen Hof auf, nehmen Anträge, Einkaufslisten entgegen und kommen abends zum Abschließen. Es kommt niemand, um das Licht abzuschalten, „sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe, meistens gegen zwei Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen“, notiert er. Einmal im Monat kommt tatsächlich eine Rechnung. Eine Miete, die haben sie ihm dann doch nicht abverlangt. Über sein Leben im Knast hat der Journalist geschrieben und in schriftlichen Interviews erzählt.

        Die Stille zu ertragen, nicht an der Isolation zu zerbrechen, ist eine Prüfung der inneren Stärke. Ihm hilft die Solidarität daheim, die „#FreeDeniz“-Bewegung, die Besuche seine Anwälte, die ihm Artikel mitbringen, die Kontakte und Geschenke von seiner Ehefrau und von Schwester Ilkay. Er schreibt in dieser Zeit ein Buch. Überhaupt das Schreiben: Für einen Gefangenen ist es Ablenkung, für den Journalisten (über)lebenswichtig. Schreiben als Notwehr.

        Still ist es im Kerker, ab und zu hört er nur die Straßenbahn

        Regelkonform ist das nicht. Aber Yücel weiß sich zu helfen. Als Stiftersatz versucht er es erst mit einer abgebrochenen Plastikgabel als Feder und der roten Soße der Essenskonserven als Tinte. „Doch weit kam ich damit nicht.“

        Bundesweite Demos für Deniz Yücel

        Demonstranten halten am Dienstag vor der Türkischen Botschaft in Berlin Schilder mit der Aufschrift
        Demonstranten halten am Dienstag vor der Türkischen Botschaft in Berlin Schilder mit der Aufschrift "#FreeDeniz" für die Freilassung des deutschen Journalisten Deniz Yücel in die Höhe. Yücel war seit dem 13. Februar in türkischer Polizeigewahrsam. Am Montag verhängte ein Richter Untersuchungshaft für den „Welt“-Korrespondenten. © dpa | Gregor Fischer
        In Deutschland ist die Empörung über die Verhaftung des Yücels in der Türkei groß.
        In Deutschland ist die Empörung über die Verhaftung des Yücels in der Türkei groß. © dpa | Kay Nietfeld
        Mit einem Autokorso demonstrieren Berliner am Dienstag für seine  Freilassung.
        Mit einem Autokorso demonstrieren Berliner am Dienstag für seine Freilassung. © dpa | Kay Nietfeld
        Die gegen Yücel in der Türkei verhängte Untersuchungshaft hat bei Regierung, Parteien und Journalistenverbänden Unverständnis und Empörung ausgelöst. Auch der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen) zeigte am Montag vor der Türkischen Botschaft in Berlin Solidarität mit dem Journalisten.
        Die gegen Yücel in der Türkei verhängte Untersuchungshaft hat bei Regierung, Parteien und Journalistenverbänden Unverständnis und Empörung ausgelöst. Auch der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu (Bündnis 90/Die Grünen) zeigte am Montag vor der Türkischen Botschaft in Berlin Solidarität mit dem Journalisten. © dpa | Gregor Fischer
        In zahlreichen Städten forderten Demonstranten mit Autokorsos eine Freilassung Yücels und anderer inhaftierter Journalisten. Auch Fahrrad- und Motorradfahrer nahmen an dem Protest teil.
        In zahlreichen Städten forderten Demonstranten mit Autokorsos eine Freilassung Yücels und anderer inhaftierter Journalisten. Auch Fahrrad- und Motorradfahrer nahmen an dem Protest teil. © dpa | Kay Nietfeld
        In Berlin beteiligten sich laut Polizei rund 300 Menschen mit etwa 100 Autos an der Aktion.
        In Berlin beteiligten sich laut Polizei rund 300 Menschen mit etwa 100 Autos an der Aktion. © dpa | Kay Nietfeld
        #FreeDeniz -Schilder waren auch an Bussen im niedersächsischen Hannover zu sehen.
        #FreeDeniz -Schilder waren auch an Bussen im niedersächsischen Hannover zu sehen. © dpa | Ole Spata
        "Pressefreiheit - überall auf der Welt!" © dpa | Ole Spata
        Plakate mit dem Porträtfoto des „Welt“-Korrespondenten wurden im Fenster des Cafés der Tageszeitung „taz“ aufgehängt.
        Plakate mit dem Porträtfoto des „Welt“-Korrespondenten wurden im Fenster des Cafés der Tageszeitung „taz“ aufgehängt. © dpa | Kay Nietfeld
        Auch in Hamburg gingen zahlreiche Menschen auf die Straße und demonstrierten für die Freilassung des Journalisten.
        Auch in Hamburg gingen zahlreiche Menschen auf die Straße und demonstrierten für die Freilassung des Journalisten. © dpa | Axel Heimken
        Ähnliche Aktionen gab es auch in der bayerischen Landeshauptstadt München: Hier wehte unter anderem ein Luftballon mit der Aufschrift
        Ähnliche Aktionen gab es auch in der bayerischen Landeshauptstadt München: Hier wehte unter anderem ein Luftballon mit der Aufschrift "Free Deniz" an der Scheibe eines Autos in einem Autokorso. © dpa | Matthias Balk
        In mehreren Tageszeitungen wurde am Dienstag für Yücels Freilassung plädiert.
        In mehreren Tageszeitungen wurde am Dienstag für Yücels Freilassung plädiert. © dpa | Michael Kappeler
        #FREEDENIZ stand in großen Lettern am Dach des Axel Springer-Hochhauses, dem Redaktionssitz der „Welt“.
        #FREEDENIZ stand in großen Lettern am Dach des Axel Springer-Hochhauses, dem Redaktionssitz der „Welt“. © dpa | Kay Nietfeld
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        Bei einem Arztbesuch entdeckt er einen Stift „direkt vor meiner Nase! Ich griff sofort zu und schmuggelte den Kugelschreiber an der Leibesvisitation vorbei in meine Zelle.“ Als Papier dient ihm eine türkische Ausgabe des „Kleinen Prinzen“, auf dem freien Platz neben dem Text und den Zeichnungen schreibt Yücel seine Erfahrungen nieder – „bei schummrigem Licht, heimlich unter der Bettdecke“. Es sind nicht immer die großen politischen Betrachtungen. Manchmal sind es kleine Beobachtungen, etwa über die Spatzen, die im Frühjahr im Hof nisten. „Als die Brut groß genug wurde, sind sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen.“

        Die Stille des Kerkers ist vorbei

        Vielleicht wird diese türkische Ausgabe des „Kleinen Prinzen“ im Bonner „Haus der Geschichte“ als Zeitdokument ausgestellt werden, im Bereich für die Jahre 2017 und 2018. Dann werden einzelne Buchseiten hinter Glas aufgeschlagen, für jeden Besucher lesbar.

        Vielleicht auch jene Seite, auf Antoine de Saint-Exupéry den kleinen Prinzen so verloren auf einer viel zu kleinen grauen Planetenkugel gezeichnet hat. Daneben ist zwischen den gelb leuchtenden Sternen die Schrift von Yücel zu lesen: „Außenwelt: Man hört ab und zu die Straßenbahn. Sonst keine Geräusche und kein Tageslicht.“ Sie war unheimlich, die Stille des Kerkers. Sie ist vorbei.