Berlin. Der Journalist Deniz Yücel sitzt seit einem Jahr in der Türkei in Haft – ohne eine Anklage, und beschuldigt von Erdogan persönlich.
„Ich vermisse die Gespräche mit ihm, viel schlimmer aber noch ist die furchtbare Vorstellung, dass er eingesperrt ist, ohne Anklage, seit einem Jahr“, sagt „Zeit“-Journalistin Özlem Topcu über ihren Kollegen und Freund. Gemeint ist Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der Zeitung „Die Welt“, dessen Untersuchungshaft nun schon 365 Tage andauert.
Yücel, der zunächst im Zusammenhang mit Berichten über eine Hacker-Attacke auf das E-Mail-Konto des türkischen Energieministers gesucht wurde, hatte sich am 14. Februar 2017 in ein Istanbuler Polizeipräsidium begeben, um sich den Fragen der Ermittler zu stellen. Die Behörden haben ihn seither nicht mehr gehen lassen. Die türkische Staatsanwaltschaft und der Regierungspräsident höchstselbst werfen dem Journalisten vor, er sei ein „deutscher Spion“ (Erdogan), der obendrein auch noch „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ betrieben habe.
Begründet wird dies unter anderem mit einem von Yücel im Sommer 2015 in der „Welt“ veröffentlichten Interview mit dem PKK-Kommandanten Cemil Bayik sowie einem Artikel, in dem er die Verantwortung der Gülen-Bewegung an dem Putschversuch vom Juli 2016 in Frage stellt.
Deniz Yücel weiterhin ohne Anklage in türkischer Haft
Beweise für ihre Vorwürfe haben weder die türkische Justiz noch die Erdogan-Administration bisher hervorgebracht, nicht einmal eine Anklageschrift liegt vor. „Entweder die Staatsanwaltschaft hat mich vergessen. Oder sie hat noch keine Anweisung dazu erhalten“, erklärte Yücel jüngst in einem dpa-Interview.
„Er hat nur seine Arbeit als Journalist gemacht, und er ist ein sehr guter Journalist, auch wenn (oder gerade weil) wir oft unterschiedlicher Ansicht sind“, sagt Özlem Topcu unserer Redaktion.
Diese Deutschen waren in türkischer Haft
Dass Yücel in Untersuchungshaft sitzt, weil er ein Journalist ist, der dem türkischen Regime schlicht unbequem ist, weist Außenminister Cavusoglu zurück. „Ich versichere Ihnen, Deniz Yücel ist kein politisch motivierter Fall“, sagte Cavusoglu jüngst bei einer Zusammenkunft bei schwarzem Tee mit Außenminister Sigmar Gabriel in Goslar. „Aber ich kann nicht in die Justiz eingreifen, nur um dieses Problem loszuwerden. Auch ich bin nicht sehr glücklich darüber, dass es noch immer keine Anklage gibt“, erklärte Cavusoglu.
Stellungnahme vor dem Europäischen Gerichtshof
Dass der türkische Außenminister unglücklich sei, habe ihn sehr „bekümmert“, teilte Yücel daraufhin mit. „Schließlich möchte ich nicht, dass er meinetwegen unglücklich ist. Aber ich kann ihn trösten: Wenn ich mich daran gewöhnt habe, seit fast einem Jahr ohne Anklage als Geisel gehalten zu werden, dann schafft er das auch.“
Auch die Bundesregierung ist überzeugt davon, dass Yücel nur festgehalten wird, weil er seinen Job gemacht hat: kritisch und unabhängig zu berichten. In ihrer Stellungnahme vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erklärte sie deshalb nach Angaben der „Welt“, dass Yücel „ausschließlich aufgrund seiner Berichterstattung inhaftiert wurde.“ Dennoch ist es Berlin bisher nicht gelungen, Erdogan die Freiheit des deutschen Staatsbürgers abzuringen.
Solidarität mit Deniz Yücel ist ungebrochen
Trotzdem oder gerade deshalb ist auch nach einem Jahr die Solidarität mit Deniz Yücel in Deutschland groß. „Lasst ihn endlich frei. Journalismus ist kein Verbrechen“, klagen Özlem Topcu und viele Wegbegleiter Yücels an. Landauf, landab organisieren sie Solidaritäts-Veranstaltungen, lesen seine Texte, drücken ihren Protest mittels Autohupen aus, „weil Deniz Autokorsos sehr schätzt“, so Topcu. Die Botschaft ist immer die gleiche: #FreeDeniz!
Dafür erhielten der Unterstützerkreis #FreeDeniz und Deniz Yücel 2017 den Sonderpreis bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“. In einem Brief aus der Haft schrieb Yücel: „Zu wissen, dass man im Recht ist, ist viel wert. Doch noch besser ist es, zu wissen, dass man im Recht ist, und dabei zu fühlen, dass man nicht allein ist – nicht einmal in Einzelhaft.“
„Deniz ist ein kommunikativer Mensch im besten Sinn. Er spricht gern selbst aber er kann auch unglaublich gut zuhören und sein Gegenüber wahrnehmen“, sagt sein „Welt“-Kollege Daniel-Dylan Böhmer. „Das merkt man auch seinen Antworten auf die Briefeschreiber an. Was die Öffentlichkeit wahrnimmt, sind Deniz’ pointierte politische Statements, sein brillanter Humor, seine Scharfzüngigkeit. Was nicht öffentlich wird, ist, dass Deniz sich persönlich ständig um andere kümmert, um Freunde aber auch um Menschen, die er so gut wie gar nicht kennt.“
Bundesweite Demos für Deniz Yücel
Bundesregierung kündigte Wende in Türkeipolitik an
Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden nach Auskunft des Vereins „Reporter ohne Grenzen“ in der Türkei weit über 100 Journalisten verhaftet, rund 150 Medien geschlossen, andere NGOs sprechen von mehr als 160 inhaftierten Journalisten. Die Türkei wird seit fast zwei Jahren mit Notstandsdekreten regiert. Demokratische Grundrechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung – werden zunehmend eingeschränkt.
Im Sommer 2017 erklärte Außenminister Sigmar Gabriel deshalb: „Die in den vergangenen Jahren erfolgreich aufgebauten Fundamente für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollten wohl wieder abgetragen werden.“ Eine Wende in der Türkeipolitik der Bundesregierung wurde verkündet.
Es geht um „Existenzgrundlage“ des Berufes
Nach der Entlassung einiger deutscher Staatsangehöriger aus türkischen Gefängnissen in den Folgemonaten, haben Berlin und Ankara inzwischen zwar verbal wieder abgerüstet, inhaltlich hat sich an Gabriels Kritik aber nichts geändert. Die Türkei driftet immer weiter vom Kurs der Demokratie nach europäischem Verständnis ab.
„Als Journalisten sind wir angehalten, Distanz zu Personen und Ereignissen zu wahren. Wir wollen klar sehen. Klar war es, nach Deniz’ Verhaftung, Solidarität zu zeigen. Es war überwältigend, zu sehen, wie sich Solidarität und Mitgefühl entfalteten. Es geht in diesem Fall eben nicht allein um einen deutschen Journalisten im Gefängnis, es geht nicht ‘gegen’ eine bei uns unbeliebte Regierung – es geht um die Freiheit des Wortes und damit um die Existenzgrundlage unseres Berufes und unserer Gesellschaft“, schrieb Özlem Topcu.