Berlin. Die Krankenkassen haben eine ernüchternde Bilanz bei der Pflege gezogen. Eine gute Versorgung ist noch längst nicht selbstverständlich.

Morgens um fünf Uhr in einem Pflegeheim, irgendwo in Deutschland: Die Prüfer der Krankenkassen kommen unangekündigt, und sie kommen auch zu Zeiten, wo in vielen Einrichtungen die Personalnot besonders spürbar ist. Am Ende der Nachtschicht zum Beispiel. „Wir hatten schon Fälle, bei denen keine einzige qualifizierte Pflegekraft da war“, sagt Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Eine Hilfskraft lässt die Prüfer im Morgengrauen ins Haus, sie spricht nicht mal Deutsch.

Die Kontrolleure melden solche Fälle an die Heimaufsicht und prüfen nach einigen Monaten erneut. Mehr passiert oft nicht, beklagt Pick. Zwar könnten die Kassen den betroffenen Heimbetreibern mit einem Entzug des Versorgungsvertrags drohen. Doch ist es nicht leicht, das vor Gericht durchzusetzen. „Wir wünschen uns da schon manchmal eine juristische Keule.“

Seit Donnerstag liegt der neue Qualitätsbericht der Prüfer vor – bewertet wird die Versorgung in den rund 13.300 Pflegeheimen und 12.800 ambulanten Pflegediensten in Deutschland. Die Bilanz fußt auf den Prüfungen im Jahr 2016 und ist ernüchternd: Gute Versorgung ist noch längst nicht selbstverständlich, in einigen zentralen Bereichen hat sie sich sogar verschlechtert.

Union und SPD einig über Verbesserung bei Pflege

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    Viele Schmerzen werden unprofessionell behandelt

    Beispiel Wundversorgung: Bei jedem vierten Bewohner, bei dem Wunden versorgt werden mussten, geschah dies nicht ordentlich, es gab hygienische Mängel oder Probleme mit der Druckentlastung. Drei Jahre zuvor gab es nur bei jedem Fünften Defizite. Beispiel Gewichtsverlust: Bei jedem vierten Bewohner wurde das Gewicht nicht kon­trolliert, obwohl die Gefahr eines Gewichtsverlusts bestand. 2013 war das nur bei jedem Zehnten der Fall. Beispiel Druckgeschwüre: Hier gibt es zwar leichte Verbesserungen bei der Vorbeugung. Doch noch immer wurden bei jedem fünften Patienten wichtige prophylaktische Maßnahmen versäumt.

    Mehr noch: Bei jedem sechsten Heimbewohner, der unter Schmerzen leidet, wurden diese Schmerzen nicht systematisch vom Pflegepersonal eingeschätzt und damit unprofessionell behandelt. Bei jedem 20. Bewohner gab es zudem Mängel bei der Körperpflege, in manchen Fällen bekamen die Betroffenen nur einmal im Monat Unterstützung beim Duschen.

    Jeder dritte ambulante Dienst rechnet falsch ab

    Erhebliche Missstände stellten die Prüfer auch bei den ambulanten Diensten fest. Nicht nur bei der Betreuung der Patienten: Mehr als ein Drittel der Pflegedienste rechnet die Leistungen nicht korrekt ab, bei knapp sieben Prozent der Pflegedienste gab es gehäufte Auffälligkeiten, also bei immerhin rund 900 Anbietern bundesweit. Die Betreiber der Pflegedienste rechneten beispielsweise nicht erbrachte Leistungen bei der Körper- und Behandlungspflege ab – oder setzten Hilfskräfte statt Fachpersonal ein.

    Doch wie können Laien von außen erkennen, ob sie es mit einem guten oder schlechten Heim oder Pflegedienst zu tun haben? Das bisherige Bewertungssystem durch Pflegenoten ist durchgefallen – selbst miserable Heime hatten hier noch passable Noten bekommen. Jetzt sollen Wissenschaftler ein neues Modell entwerfen. Doch das dauert. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen rechnet damit, dass ein neuer Pflege-Lotse frühestens 2020 kommt. Auch für die Entwicklung eines verbindlichen Personalschlüssels in der Altenpflege hat der Gesetzgeber den Kassen und Pflegeträgern bis Mitte 2020 Zeit gegeben.

    Künftige Koalition will gegen Personalnotstand vorgehen

    MDS-Geschäftsführer Peter Pick forderte am Donnerstag, dass etwa bei Nachtschichten in Pflegeheimen künftig mindestens zwei Betreuungskräfte anwesend sein müssten. Wichtig sei auch, die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege so zu verbessern, dass Pflegekräfte länger im Beruf bleiben. Derzeit schaffen die meisten im Schnitt gerade mal zehn Jahre.

    In den laufenden Koalitionsverhandlungen haben sich Union und SPD immerhin auf ein Sofortprogramm gegen den Personalnotstand geeinigt – mit 8000 neuen Stellen für die Altenpflege. Umgerechnet auf 13.000 Heime bedeutet das allerdings weniger als eine neue Stelle pro Einrichtung. Entsprechend dünn fällt der Applaus bei Experten aus: Das sei nicht mehr als „ein Tropfen auf den heißen Stein“, beklagt die Caritas.

    Linke kritisiert „scheinheilige“ Vorschläge

    Die Linken im Bundestag sprechen von „scheinheiligen“ Vorschlägen. Union und SPD wüssten genau, dass in der Altenpflege mindestens 30.000 Stellen fehlen. Der aktuelle Bericht des MDS zeige, dass die Qualität der Versorgung in den Bereichen abnehme, in denen professionelle Pflegekräfte fehlen. 8000 neue Stellen seien jedenfalls „nicht der Neustart in der Pflege, den Martin Schulz versprochen hat“, glaubt auch Pfleger Alexander Jorde, der in einer Wahlkampfsendung Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus seinem Alltag berichtet hatte.

    Am Donnerstag verabredeten die möglichen Koalitionspartner zudem, das Tarifgesetz zu ändern, um leichter gegen den bundesweiten Flickenteppich bei den Tariflöhnen in der Altenpflege vorzugehen. „Wir wären einen großen Schritt voran, wenn alle Träger nach Tarif bezahlen würden“, sagte SPD-Unterhändlerin Carola Reimann unserer Redaktion.