Berlin. Das BKA hat innerhalb eines Jahres knapp 100 christenfeindliche Angriffe registriert – darunter ein Mord und neun Körperverletzungen.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist irritiert. Im Sommer 2016 häufen sich die Meldungen über Übergriffe auf Christen. Das Hilfswerk „Open Doors“ dokumentiert 743 Fälle von religiös motivierter Gewalt gegen christliche Flüchtlinge in deutschen Asylunterkünften, überwiegend auf Migranten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. De Maizière beschließt damals, der Sache auf den Grund zu gehen.

Im Kreis der Innenminister drängt er darauf, dass die Bundesländer ab 2017 die „christenfeindlichen Straftaten“ systematisch erfassen und dem Bundeskriminalamt (BKA) melden. Jetzt liegt ihm intern ein vorläufiges Ergebnis vor. Es wurden nach den Recherchen unserer Redaktion rund 100 Straftaten gezählt, darunter mindestens neun Körperverletzungen und ein Mordfall – in Prien am Chiemsee.

Es sind die ersten belastbaren Zahlen. Ihre Einordnung fällt schwer, weil eine Vergleichsgröße fehlt. Offiziell wird der Innenminister das Zahlenwerk erst Ende April oder Anfang Mai vorstellen, und dann auch nur als Unterkategorie der Statistik über politisch motivierte Kriminalität. Oberthema: Hasskriminalität. Unterkategorie: „christenfeindliche“ Straftaten. Auch die „islamfeindlichen“ Straftaten werden vom BKA gezählt.

CDU-Politiker nennt Zahlen „alarmierend“

Der CDU-Innenpolitiker Ansgar Heveling ist froh, dass „Klarheit über das Ausmaß“ der Übergriffe besteht. Entwarnung will er nicht geben. Jeder Angriff ist einer zu viel, für Heveling sind die Zahlen „alarmierend“. Mit Stand November waren es 97 Straftaten, dazu kommen noch der Monat Dezember, außerdem Nachtrags- und Ergänzungsmeldungen aus den Ländern.

In mindestens 25 Fällen wurden Kirchen und christliche Symbole angegriffen, etwa Kreuze als Halsketten, Kruzifixe und Wegkreuze. So wurden in Berlin im Mai und Juli 2017 zwei Männer beleidigt und geschlagen, die eine Kreuzkette trugen. In einem Fall schrien die Angreifer: „Was soll das?“, und zeigten auf den Hals ihres Opfers.

38-Jährige vor den Augen ihrer Kinder getötet

In Prien stach ein 30 Jahre alter afghanischer Asylbewerber am 29. April 2017 auf dem Parkplatz vor einem Lidl-Supermarkt 16-mal auf eine Landsfrau ein. Farimah S. erlag am selben Tag ihren Verletzungen. Die 38-jährige Frau war vor den Augen ihrer fünf und elf Jahre alten Kinder getötet worden. Für die Staatsanwaltschaft ist das Motiv für den Mord besonders verachtenswert, weil der Täter, Hamidullah M., die Frau deswegen tötete, weil sie zum christlichen Glauben konvertiert war und ihn überreden wollte, ihrem Beispiel zu folgen.

Dies sei mit seinem Glauben als Muslim nicht vereinbar gewesen. Er fühle sich leichter und glücklicher, nachdem er die Frau umgebracht habe, erzählte der Täter dem psychiatrischen Gutachter. „Er meinte, er habe das Recht, einen Menschen zu töten.“ Straftaten wie der Mord in Prien sind für den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) „erschreckend und besorgniserregend“.

Attentäter von Barmbek taucht in Statistik nicht auf

Drei Monate später die nächste Bluttat, diesmal in Hamburg, Stadtteil Barmbek: Ein Palästinenser greift Kunden in einem Supermarkt an, ein Mensch stirbt, sechs weitere werden verletzt. Sein Ziel sei es gewesen, so viele Christen wie nur irgendwie möglich zu töten, sagt der Täter bei seiner Vernehmung aus. Weil ein islamistisch terroristischer Hintergrund möglich ist, wurde, wird der Fall nicht als christenfeindliche Straftat gezählt. Er taucht in der vorläufigen BKA-Statistik nicht auf.

Messerangriff in Hamburger Supermarkt

Wie die Polizei mitteilte, wurde der Täter von Passanten überwältigt und von Zivilfahndern festgenommen.
Wie die Polizei mitteilte, wurde der Täter von Passanten überwältigt und von Zivilfahndern festgenommen. © dpa | Paul Weidenbaum
In der Haushaltswaren-Abteilung sind auf Bitte der Mitarbeiter alle Messer weggeräumt
In der Haushaltswaren-Abteilung sind auf Bitte der Mitarbeiter alle Messer weggeräumt © Sebastian Becht | Sebastian Becht
In einem an der Eingangstür der Filiale angebrachten Schreiben bittet das Unternehmen, von Fragen an die Beschäftigten abzusehen
In einem an der Eingangstür der Filiale angebrachten Schreiben bittet das Unternehmen, von Fragen an die Beschäftigten abzusehen © Sebastian Becht | Sebastian Becht
Blumen, Kerzen und eine handschriftliche Notiz liegen vor dem Edeka Markt an der Fuhlsbütteler Straße in Hamburg Barmbek
Blumen, Kerzen und eine handschriftliche Notiz liegen vor dem Edeka Markt an der Fuhlsbütteler Straße in Hamburg Barmbek © Michael Arning
Die Barmbeker Pastoren Idalena Urbach und Sven Lundius veranstalteten spontan eine Gedenkfeier für die Opfer.
Die Barmbeker Pastoren Idalena Urbach und Sven Lundius veranstalteten spontan eine Gedenkfeier für die Opfer. © Andreas Laible | Andreas Laible
Hamburgs Erster Bürgermeister Scholz und Innensenator Grote kommen in Hamburg-Barmbek mit Blumen zu dem Supermarkt, in dem ein Mann einen Menschen mit einem Messer getötet und sechs weitere verletzt hat
Hamburgs Erster Bürgermeister Scholz und Innensenator Grote kommen in Hamburg-Barmbek mit Blumen zu dem Supermarkt, in dem ein Mann einen Menschen mit einem Messer getötet und sechs weitere verletzt hat © dpa
Danksagung: Ein Zettel mit der Aufschrift
Danksagung: Ein Zettel mit der Aufschrift "An den Edeka-Mitarbeiter, der die Verfolgung aufnahm. Du bist ein Vorbild an Haltung und Courage! Damit hast du Leben gerettet! Barmbek dankt dir!" vor dem Supermarkt in Hamburg-Barmbek © dpa
Ein Zettel mit der Aufschrift
Ein Zettel mit der Aufschrift "Im Namen aller Muslime trauern wir mit euch" liegt am 30.07.2017 zwischen Blumen und Kerzen vor dem Supermarkt in Hamburg-Barmbek © dpa | Bodo Marks
Blumen und Kerzen liegen in Hamburg-Barmbek vor dem Supermarkt, in dem am 28.07.2017 ein Mann einen Menschen mit einem Messer getötet und sechs weitere verletzt hat
Blumen und Kerzen liegen in Hamburg-Barmbek vor dem Supermarkt, in dem am 28.07.2017 ein Mann einen Menschen mit einem Messer getötet und sechs weitere verletzt hat © dpa | Markus Scholz
In einem Edeka-Supermarkt hat ein Angreifer wahllos mit einem Küchenmesser auf Kunden eingestochen. Dabei wurde ein Mensch getötet. Sieben weitere wurden verletzt.
In einem Edeka-Supermarkt hat ein Angreifer wahllos mit einem Küchenmesser auf Kunden eingestochen. Dabei wurde ein Mensch getötet. Sieben weitere wurden verletzt. © dpa | Markus Scholz
Der Täter war nach der Tat auf die Straße geflüchtet.
Der Täter war nach der Tat auf die Straße geflüchtet. © REUTERS | UGC
Eine ältere Passantin wird nach der Messerattacke von einem Feuerwehrmann begleitet.
Eine ältere Passantin wird nach der Messerattacke von einem Feuerwehrmann begleitet. © dpa | Paul Weidenbaum
Feuerwehr und Polizei waren mit einem Großaufgebot vor Ort.
Feuerwehr und Polizei waren mit einem Großaufgebot vor Ort. © REUTERS | UGC
Noch Stunden nach dem Geschehen war die Spurensicherung in dem Supermarkt bei der Arbeit.
Noch Stunden nach dem Geschehen war die Spurensicherung in dem Supermarkt bei der Arbeit. © dpa | Markus Scholz
Die Polizei vermutet bei der Tat einen islamistischen Hintergrund.
Die Polizei vermutet bei der Tat einen islamistischen Hintergrund. © dpa | Markus Scholz
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An diesem Beispiel wird deutlich, wie schwer die Einordnung einer Tat fallen kann. Hinzu kommt, dass es generell nicht zwingend vorgeschrieben ist, die Religionszugehörigkeit von Opfern und Tatverdächtigen zu melden; im Jargon der Statistiker ist es kein „Muss-Feld“. Der Unterschied zwischen den offiziellen Zahlen und den Erfahrungen von Organisationen wie „Open Doors“ könnte also daran liegen, dass das BKA die Fälle zählt, in denen die Polizei ermittelt beziehungsweise Anzeige erstattet wird und in denen das Motiv geklärt ist.

Betroffene in Asylunterkünften erstatten selten Anzeige

Die Dunkelziffer kann sehr hoch sein. Was sich zum Beispiel in den Flüchtlingsunterkünften abspielt, dringt nicht immer nach außen. Die Betroffenen erstatten keine Anzeige, zum Teil trauen sie sich nicht, sich an den Wachdienst zu wenden. Es gibt viele Klagen, wonach sich muslimische Wachleute auf die Seite der Angreifer gestellt hätten.

Die Bluttaten von Prien und Hamburg werden in diesen Tagen vor Gericht verhandelt. Die Beweisaufnahme zum Mordfall in Prien ist abgeschlossen. Am Montag stehen die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung an, für den 9. Februar wird vor dem Schwurgericht in Traunstein ein Urteil erwartet. Den Tätern in Prien und Hamburg ist gemein, dass sie abgeschoben werden sollten und unter Drogeneinfluss standen. Die Fälle zeigen auch, dass Geflüchtete Täter wie Opfer sein können.

Neun Fälle in NRW mit rechtsradikalen Tätern

Statistisch wurden die wenigsten Straftaten (14) zwischen Asylbewerbern oder Flüchtlingen begangen. Wie aus einem Brief de Maizières hervorgeht, ergab eine Auswertung, dass in acht Fällen die Tatverdächtigen muslimischen Glaubens, in zwölf Fällen die Opfer Christen waren. Insgesamt acht Straftaten wurden in den Asylunterkünften verübt.

In Nordrhein-Westfalen, wo 2017 genau 24 christenfeindliche Straftaten gezählt wurden – unter anderem zwei Körperverletzungen, Brandstiftung, Sachbeschädigungen, Nötigungen – werden neun Fälle rechtsradikalen und ein Fall linksradikalen Tätern zugeordnet.

Christliche Kirchen halten sich bedeckt

Ob und welche Konsequenzen aus den Zahlen gezogen werden, ist unklar. Müssen christliche Flüchtlinge besser geschützt werden? Verdienen Konvertiten mehr Abschiebeschutz, weil sie andernfalls in ihren Heimatländern drangsaliert werden?

Die großen christlichen Kirchen warten ab und hielten sich schon bislang merklich zurück. De Maizière versicherte in einem Brief, er nehme das Thema „sehr ernst“. Jeder Übergriff müsse „unterbunden“ werden. Im selben Brief hat der Innenminister die Statistik vorsorglich als „VS“ eingestuft – als Verschlusssache. Ende November dann rückte er die Daten doch heraus, diesmal auf eine Anfrage der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel.

Angriffe müssen hart und konsequent geahndet werden

Bayerns Innenminister Herrmann mahnt: „Wer hier leben will, muss sich zwingend von einer christenfeindlichen Gesinnung verabschieden, sonst ist er in unserem Land schlicht nicht willkommen.“ Das sei „kein bloßer Wunsch“ an die Flüchtlinge, sondern eine zwingende Forderung. Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen gehöre zu den unabdingbaren Grundsätzen unseres Zusammenlebens. Herrmann: „Integration in Deutschland bedeutet, ohne Wenn und Aber die christlich-abendländische Wertekultur zu tolerieren. “

Heveling, gerade zum Justitiar der Unionsfraktion im Bundestag gewählt, sagt, es sei wichtig, „alles zum Schutz von Christen und christlichen Einrichtungen zu unternehmen“. Er sehe „eine besondere Verantwortung unseres Staates“. Strafrechtlich müssten die Angriffe „hart und konsequent“ geahndet werden. Und falls es Strafbarkeitslücken gebe, „müssen sie jetzt genauso geschlossen werden, wie es derzeit bei antisemitischen Angriffen zu Recht angepackt wird“.