Berlin. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck wagt die Partei den Neuanfang. Das ist richtig und zeigt: Die Grünen haben Lust auf Zukunft.

Die sich abzeichnende neue Große Koalition würde von drei Politikern angeführt, die gerade den Spätherbst ihrer Karrieren erleben. CDU-Chefin Angela Merkel, CSU-Chef Horst See­hofer und SPD-Chef Martin Schulz – alle drei haben bei der Bundestagswahl eine deftige Niederlage erlitten. Nun schleppen sie sich mit letzter Kraft vermutlich in die nächste Regierung. Sie wirken müde, ausgelaugt, angeschlagen. Von Erneuerung keine Spur.

Ganz anders die Grünen. Die alten Chefs Simone Peter und Cem Özdemir sind nicht mehr angetreten, und der Parteitag in Hannover hat sich für zwei kämpferische, leidenschaftliche, hungrige Politiker entschieden: Annalena Baerbock, Bundestagsabgeordnete aus Brandenburg, und Robert Habeck, stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, werden die Öko-Partei führen. Nicht durchsetzen konnte sich die mütterliche, erfahrene, sicherlich fähige, aber mit ihrem Sozialstaatsdenken eher auf alte Rezepte setzende niedersächsische Fraktionschefin Anja Piel.

Zwei Realos an der Spitze tun der Partei gut

Baerbock und Habeck kommen beide, auch wenn sie immer beteuern, die Flügel überwinden zu wollen, aus der Realo-Ecke. Auch das ist positiv: Die Grünen wählen nicht mehr sklavisch nach Flügellogik – einer von links, einer von rechts. Sie überlegen sich, wer die Partei mit Kraft nach vorne bringen kann. Auf dem Parteitag ging Jürgen Trittin, der wichtigste Mann auf dem linken Flügel, immer wieder zu Habeck. Sie besprachen sich in schwierigen Situationen, lachten, Habeck schlug ihm auf die Schulter wie einem alten Kumpel.

Solche Bilder hatte es zwischen Trittin und Özdemir nie gegeben. Vielleicht gelingt es dem neuen Führungsduo wirklich, den alten Streit zwischen dem bürgerlichen und dem linken Flügel in produktive Bahnen zu lenken.

Grüne loben Einigkeit und meiden Personalfragen

weitere Videos

    In den Jamaika-Sondierungen haben sich die Grünen gut präsentiert

    Für Habeck haben die Grünen sogar ihre Satzung geändert: Für eine Übergangszeit von acht Monaten darf er nun Parteichef sein und gleichzeitig sein Amt als Umweltminister in Kiel führen. Die Grünen werfen im Jahr 2018 alte Satzungsgrundsätze auf die Müllhalde – sie haben Lust auf Zukunft.

    Ohnehin stehen die Grünen nicht schlecht da. In Umfragen kommen sie auf elf bis zwölf Prozent – was auch mit ihrem seriösen Auftreten während der Jamaika-Sondierungen zu tun hat. Nach diesem Parteitag des Aufbruchs dürften die Zustimmungswerte weiter steigen. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner verkündete einen Mitgliederrekord – mehr als 65.000 Grüne gibt es aktuell, so viele wie noch nie. Die Partei sitzt in 14 von 16 Landtagen, ist an neun Landesregierungen beteiligt, in Baden-Württemberg stellt sie sogar den Ministerpräsidenten.

    Die neue Parteispitze will im rot-grünen Milieu wildern

    Aber: Bei der Bundestagswahl holten die Grünen – zurückhaltend formuliert – mittelmäßige 8,9 Prozent. Sie sind die kleinste von sechs Fraktionen im Bundestag. Also die Fraktion mit der geringsten parlamentarischen Durchschlagskraft. Hinzu kommt: ­Baerbock sitzt im Parlament, Habeck nicht, diese Bühne fehlt ihm, was noch zum Problem werden dürfte.

    Gerade den Norddeutschen könnten die Grünen im Bundestag, in dem eine provokant auftretende AfD sitzt, die die „Gutmenschen“ aus der Öko-Partei als Gegner ausgemacht hat, gut gebrauchen. Eine weitere Herausforderung: 2019 stehen in Ostdeutschland drei Landtagswahlen an. Hier haben es die Grünen traditionell schwer.

    Die neue Parteispitze ist ehrgeizig. Wir können bei der nächsten Bundestagswahl zweistellig werden, so ihre indirekte Botschaft. Sie möchten vor allem im rot-grünen Milieu wildern. Die Schwäche der Sozialdemokraten und ihres Vorsitzenden bietet ihnen die Chance, enttäuschte SPD-Wähler zu überzeugen. Baerbock und Habeck haben das Zeug, die Grünen in eine neue Ära zu führen. Sie müssen jetzt liefern.