Berlin. Politiker treffen regelmäßig übermüdet weitreichende Entscheidungen. Doch Experten warnen: Schlafmangel schränkt die Kompetenz ein.

Es war eine rekordverdächtig lange Nacht: Als die Sondierer von Union und SPD am Freitagmorgen vor die Presse traten, hatten sie mehr als 24 Stunden lang verhandelt – und keine davon geschlafen. Das ist nicht nur anstrengend für die Beteiligten und die wartenden Journalisten. Es kann auch Auswirkungen auf die Qualität der Verhandlungsergebnisse haben, sagen Experten. Politiker verweisen häufig auf ihre Fähigkeit, mit wenig Schlaf auszukommen – als Beleg für Ausdauer und Tatkraft.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte in seiner Zeit als Premierminister einmal im Scherz gesagt, er und der damalige Präsident Dimitri Medwedew würden nur abwechselnd schlafen. Barack Obama bekam als US-Präsident laut „New York Times“ gerade einmal fünf Stunden Schlaf pro Nacht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) attestiert sich selbst „kamelartige“ Kapazität, Energie zu speichern, die es ihr ermögliche, über einige Tage hinweg mit sehr wenig Schlaf auszukommen.

Schlafmangel vergleichbar mit übermäßigem Alkoholkonsum

Prof. Dr. med. Ingo Fietze, Leiter des schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité.
Prof. Dr. med. Ingo Fietze, Leiter des schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité. © Charité | Charité

Doch auch wenn das individuelle Schlafbedürfnis variiert: Bei einer Nacht komplett ohne Ruhe kommt nach Einschätzung von Experten jeder an seine Grenzen. „Nach einer durchgemachten Nacht ist man nur noch eingeschränkt entscheidungsfähig“, erklärt Ingo Fietze, Leiter des schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité, dieser Redaktion. „Konzentration, Gedächtnis, Geschicklichkeit und Schnelligkeit leiden dann erheblich.“

Forscher vergleichen den Effekt von Schlafmangel mit dem von übermäßigem Alkoholkonsum: Bei 22 Stunden Wachheit entspreche das Reaktionsvermögen dem von 1,0 Promille Blutalkohol, sagt Hans-Günter Weeß, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Ein Auto hätten die Verhandler am Freitagmorgen also schon nicht mehr sicher lenken können.

Kognitive Leistungsfähigkeit nimmt ab drei Uhr nachts ab

Auch Stimulanzien helfen nur begrenzt. So könne man sich mit koffeinhaltigen Getränken und sehr hellem Licht zwar davon abhalten einzuschlafen. Aber die Einschränkungen in der Urteilsfähigkeit ließen sich so nicht ausgleichen, sagt Fietze. „Menschen brauchen Schlaf, um über den Tage aufgenommene Informationen zu sortieren und zu verarbeiten“, sagt der Arzt. „Ich kann mich künstlich wach halten, aber diese Funktion nicht ersetzen.

Spätestens ab drei Uhr nachts“, so Fietze, „ist es vorbei“. Dann lasse die kognitive Leistungsfähigkeit deutlich nach. „Da werden die Leute dann entweder sehr kompromissbereit oder igeln sich komplett ein“, so Fietze. Auch Weeß bestätigt einen Einfluss von Müdigkeit auf das Verhalten der Verhandler. Nachts stimme man „bei dem einen oder anderen Punkt vielleicht zu, den man unter Wachheit gar nicht so akzeptieren würde“, sagte er.

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    Lange Nächte sind vor allem international üblich

    Trotzdem ist es gerade auf internationaler Ebene nicht selten, dass politische Entscheidungen zu später Stunde getroffen werden. Bei den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition im Herbst war zwischen Union, FDP und Grünen bis vier Uhr nachts verhandelt worden – bis die Gespräche schließlich scheiterten. Auch bei Tarifverhandlungen sind Nachtschichten üblich.

    Hinweise, wie mit solchen langen Nächten umzugehen ist, wenn sie sich nicht vermeiden lassen, können sich Politiker bei Arbeitern holen, die regelmäßig nachts arbeiten, sagt Fietze. Bei Beschäftigten in der Schichtarbeit sei es durchaus üblich, mit einem ausgedehnten Mittagsschlaf „vorzuschlafen“, so der Forscher. „Wer das macht, hat bei Gesprächen nachts einen deutlichen Vorteil.“ Sinnvoller als die vierte oder fünfte Tasse Kaffee oder ein Spaziergang sei es außerdem, sich im Laufe der Nacht zurückzuziehen für eine kurze Ruhepause. Zehn oder 15 Minuten Schlaf zwischendurch wären für die Sondierer sicherlich klug gewesen“, erklärt Fietze.

    Einige Fehltritte sind auf Schlafmangel zurückzuführen

    Auf Schlafmangel zurückgeführt werden schließlich Fehlentscheidungen mit katastrophalen Folgen. Dazu gehören die Kernschmelze im Three Mile Island Kernkraftwerk 1978 in den USA, der GAU von Tschernobyl 1986, die Öl-Katastrophe durch den Tanker „Exxon Valdez“ 1989 vor Alaska sowie das Challenger-Unglück 1986.

    Dauerhaft vermeiden lassen sich zu kurze Nächte derzeit aber wohl nur mit einem Ausstieg aus dem Politikbetrieb. Barack Obama hatte jedenfalls vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit schon entsprechende Pläne geschmiedet. Wenn er nicht mehr Präsident sei, so Obama, werde er sich „drei oder vier Monate freinehmen, um zu schlafen“. (mit dpa)