Berlin. Einst taugte der NC als Kriterium für die Auswahl von Medizinstudierenden, heute nicht mehr. Das Karlsruher Urteil war überfällig.

Jedes Jahr im August kommt das große Zittern: Zehntausende Studienbewerber warten dann auf die Nachricht, ob es geklappt hat mit dem ersehnten Studienplatz für Medizin. Die allermeisten von ihnen werden enttäuscht: Auf einen Studienplatz kommen mehr als vier Bewerber und nur wer nahezu makellose Noten im Abitur vorweisen kann, hat realistische Chancen, zugelassen zu werden. Der Numerus clausus ist für viele zur schier unüberwindbaren Hürde geworden.

Die Zahl der Studienplätze für Humanmedizin ist seit Anfang der 1990er-Jahre etwa gleich geblieben, die Zahl der Bewerber dagegen hat sich vervielfacht. Und was einmal ein sinnvolles Kriterium für die Auswahl von Studierenden war, ist so zu einem Nadelöhr geworden, das am Ende nicht unbedingt die qualifiziertesten Mediziner hervorbringt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, vom Gesetzgeber eine Reform des Auswahlverfahrens zu fordern, ist deshalb richtig – und längst überfällig.

Ein guter Arzt braucht mehr als Faktenwissen

Natürlich sind Schulnoten ein wichtiger Anhaltspunkt dafür, welche Bewerber in der Lage sind, das lange, stressige und lernintensive Studium erfolgreich zu bestehen. Der Abiturschnitt sagt etwas aus über Auffassungsgabe, Fleiß und Disziplin.

Aber zu einem guten Arzt oder einer guten Ärztin gehört mehr als Faktenwissen: Mediziner brauchen auch Empathie und die Fähigkeit, sich auf ihre Patienten einzulassen. Ob jemand diese Eigenschaften mitbringt, lässt sich wesentlich schwerer prüfen als naturwissenschaftliche Grundlagen und die Fähigkeit, Dosierungen korrekt zu berechnen. Doch dieser Mehraufwand würde sich lohnen. Karlsruhe hat deshalb Bund und Ländern am Dienstag richtigerweise zur Aufgabe gestellt, mindestens ein Auswahlkriterium gesetzlich zu verankern, das nicht auf Noten basiert.

Wie genau das Urteil umgesetzt werden soll, ist noch offen

Wie das genau ausgestaltet werden soll, haben die Richter nicht festgelegt. Vorstellbar ist zum Beispiel, dass Bewerber, die bereits eine einschlägige Ausbildung haben, stärker berücksichtigt werden als bisher. Davon würde die Rettungssanitäterin, die nach dem Abi mit der Ausbildung Wartesemester überbrücken wollte, genauso profitieren wie der Krankenpfleger, der sich in seinem Gebiet weiterentwickeln will.

Mit kluger Umsetzung kann dieses Urteil bedeuten, dass die Gruppe derer, die ein Studium beginnen dürfen, deutlich vielfältiger wird – dass mehr Menschen, die Mediziner werden, Erfahrung mitbringen aus verschiedenen Bereichen, und eine breitere Palette an Motivation, sich überhaupt für das Studium zu entscheiden.

Urteil löst bei weitem nicht alle Probleme

Die Plätze an den medizinischen Fakultäten werden von der Umgestaltung des Zulassungsverfahrens nicht mehr werden, von den vielen Bewerbern wird immer noch der Großteil leer ausgehen. Und jenseits der Universitäten wird das Problem des Ärztemangels, vor allem auf dem Land, davon nicht gelöst. Zu viele von denen, die ausgebildet werden, verlassen den medizinischen Sektor, um in der Privatwirtschaft mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen zu finden – oder gehen gleich ins Ausland.

Bund, Länder und Hochschulen haben jetzt die Aufgabe, sich um ein faireres Verfahren für Studienbewerber zu kümmern. Die Gesellschaft steht vor dem Luxusproblem, für den überlebenswichtigen Arztberuf mehr kluge und hoch motivierte Bewerber zu haben als Studienplätze.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wäre dabei ein guter Anlass, sich zu überlegen, ob das, was jetzt in der Ausbildung mehr Platz finden soll, nicht auch später bei den Ärzten im oft anonymen Klinikalltag gefördert werden muss.