Berlin. EU-Sicherheitskommissar Julian King setzt auf den Schutz der EU-Außengrenzen – und will die Datenbanken der Behörden besser vernetzen.

Über eines will Julian King, der britische EU-Kommissar, auf keinen Fall sprechen: den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der EU. Der 55-jährige Politiker aus Nordirland ist seit einem Jahr in Brüssel für Sicherheitsfragen zuständig. Beim Besuch in unserer Redaktion kündigt er eine neue Initiative zur Terrorabwehr an.

Kommissar King, ein Jahr nach dem Anschlag von Berlin: Ist Deutschland, ist Europa sicherer geworden?

Julian King : Die Terrorbedrohung hält unverändert an, obwohl wir Fortschritte erzielen im Kampf gegen das sogenannte Kalifat in Syrien und dem Irak und auch mit unseren Sicherheitsmaßnahmen in Europa. Niemand sollte erwarten, dass der IS einfach verschwindet. Die Terroristen nehmen weiterhin auch Deutschland ins Visier. Das Risiko bleibt hoch – in ganz Europa.

Wie hat sich der Flüchtlingszustrom gerade nach Deutschland auf die Sicherheitslage ausgewirkt?

King: Wir sollten die Herausforderungen durch Migrationsströme einerseits und Terrorismus andererseits nicht vermischen. Sonst betreiben wir das Geschäft des IS – und von denen, die den Eindruck erwecken wollen, jede Migration sei ein Sicherheitsrisiko. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.

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    Der Attentäter von Berlin ist als Flüchtling nach Deutschland gekommen.

    King: Wir dürfen natürlich nicht naiv sein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der IS auch Flüchtlingsrouten dazu benutzt hat, um Terroristen nach Europa zu schicken. Deshalb haben wir Maßnahmen ergriffen, um den Schutz der EU-Außengrenzen zu verbessern. Es geht nicht darum, die Grenzen abzuriegeln. Wir wissen inzwischen mehr darüber, wer in die Europäische Union einreist und wieder ausreist, weil wir auch EU-Bürger systematisch kontrollieren. Und dank des europäischen Einreise- und Ausreisesystems werden wir künftig noch mehr wissen.

    Ist die Politik der offenen Grenzen zum Sicherheitsrisiko geworden?

    King: Der Schengenraum, der auf die Kontrolle der Binnengrenzen verzichtet, ist kein Sicherheitsrisiko an sich. Die Herausforderung besteht darin, die europäischen Außengrenzen besser zu sichern. Daran arbeiten wir ganz konkret – und unterstützen etwa die Grenzschützer in Ländern wie Bulgarien, Griechenland, Italien und Spanien mit europäischen Kräften.

    Deutschland ist dazu übergegangen, seine Grenzen wieder selbst zu kontrollieren . . .

    King: Wir nehmen es hin, dass Mitgliedstaaten in begründeten Ausnahmefällen für eine begrenzte Zeit zu nationalen Grenzkontrollen greifen. Aber wir wollen zu einem vollständig funktionierenden Schengen-System zurückkehren.

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      Wann werden Sie Deutschland eigene Grenzkontrollen verbieten?

      King: Über Ausnahmegenehmigungen entscheidet die EU-Kommission von Fall zu Fall. Unser Ziel ist, nationale Grenzkontrollen so schnell wie möglich überflüssig zu machen.

      Ist Deutschland ein Vorbild bei der Terrorabwehr?

      King: Wir müssen alle voneinander lernen. Daher schaffen wir auf der europäischen Ebene einen Rahmen, in dem die Mitgliedstaaten ihre Erfahrungen austauschen können. Ein wichtiges Feld ist die Verhinderung der Radikalisierung, gerade auch im Internet.

      Dabei sind Sie auf die Internetunternehmen angewiesen. Wie läuft die Zusammenarbeit?

      King: Die europäische Zusammenarbeit mit der Internetbranche bei der Bekämpfung der Online-Radikalisierung geht in die richtige Richtung, ist jedoch noch nicht gut genug. Wir müssen mehr tun und schneller handeln, um die Gefahr zu verringern. Wir setzen auf freiwillige Kooperation, etwa bei der Entfernung von Terrorpropaganda im Internet. Aber wir werden zu Jahresbeginn eine Zwischenbilanz ziehen. Wenn sich die Dinge nicht schnell genug entwickeln, muss der europäische Gesetzgeber tätig werden.

      Terroristen wählen oft simple Mittel: Sie stehlen ein Fahrzeug und rasen in eine Menschenmenge. Sind die Europäer dagegen machtlos?

      King: Das Risiko lässt sich mindern, aber nicht auf null reduzieren. Wir haben vor einigen Monaten in Nizza die Vertreter lokaler Behörden zusammengebracht, damit sie voneinander lernen, wie öffentliche Plätze am besten geschützt werden. Die EU hat in diesem Jahr 125 Millionen Euro bereitgestellt, um solche Zusammenarbeit zu ermutigen.

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        Genügt das denn? Warum bringen Sie keinen einheitlichen Schutz für alle europäischen Großstädte auf den Weg?

        King: Jeder muss die Maßnahmen ergreifen, die für seine Stadt am besten passen. Wir sollten in Brüssel nicht so tun, als seien wir schlauer als Lokalpolitiker und Behördenleiter in Berlin, Paris oder Barcelona. Daher unterstützen wir lokale Entscheidungsträger dabei, voneinander zu lernen und bewährte Verfahren zum besseren Schutz von öffentlichen Räumen auszutauschen.

        Die EU-Kommission hat neue Vorschläge zur Verbesserung der Terrorabwehr angekündigt. Welche werden das sein?

        King: Wir werden in der kommenden Woche ein Konzept vorstellen, wie die Datenbanken der Sicherheitsbehörden in der EU besser vernetzt werden können. Es muss sichergestellt sein, dass Grenzschützer, Polizisten oder Visa-Beamte in sämtlichen Mitgliedstaaten alle verfügbaren Informationen über möglicherweise gefährliche Personen bekommen. Bisher werden die Daten wie in Silos verwaltet: eine Datenbank für Visa-Inhaber, eine andere für Asylbewerber, eine dritte für Einreisen in die EU, eine vierte für Gefährder. Das ist viel zu kompliziert – und führt zu Informationslücken, die es Terroristen ermöglichen, sich hinter verschiedenen falschen Identitäten zu verstecken. Das muss sich dringend ändern.

        Datenschützer werden Alarm schlagen.

        King: Unsere Vorschläge stehen selbstverständlich im Einklang mit dem Datenschutz in der EU und in den Mitgliedstaaten. Es geht nicht darum, eine einzige große Datenbank zu schaffen. Wir brauchen jedoch ein besseres Zusammenspiel zwischen den Datenbanken. Es geht auch nicht darum, mehr Daten zu sammeln, sondern um eine bessere Nutzung vorhandener Informationen – unter Berücksichtigung der Datenschutzregelungen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wir können verhindern, dass eine Person mit verschiedenen Identitäten in den Datenbanken auftaucht. Bei einer Polizeikontrolle müssen die Beamten wissen, wen sie vor sich haben. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, auf alle verfügbaren Informationen zuzugreifen, die sie für ihre Arbeit benötigen.

        Können Sie als Brite voraussagen, wie sich der Brexit auf die Sicherheitslage in Europa auswirken wird?

        King: Ich bin in der EU-Kommission nicht für den Brexit zuständig und werde mich dazu nicht äußern. Was die Sicherheitslage angeht, sollten Großbritannien und die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten der EU ihre enge Zusammenarbeit fortsetzen. Das betrifft politische wie finanzielle Aspekte. Ich hoffe sehr, dass dies gelingt.