Berlin. Wer darf Angehörige nach Deutschland nachholen? An der Frage drohten Verhandler von Union, FDP und Grünen zu scheitern. Darum geht es.

„High Noon“, so nannte an diesem Wochenende die Grünen-Politikerin Claudia Roth die Debatte der Jamaika-Sondierer über Flucht, Asyl, Zuwanderung. Die Verhandlungsführer von Union, Grünen und FDP streiten seit Wochen über die politische Linie einer möglichen Koalition. In den Sondierungen kulminiert das, was die deutsche Politik seit 2015 prägt: ein Richtungsstreit über die Frage, wie Deutschland künftig mit Flüchtlingen und Zuwanderern umgeht. Wer darf und soll kommen? Und wie viele?

Es sind Fragen, die kaum in diesen Vorgesprächen für eine neue Regierung bis zum Ende diskutiert werden können. Deshalb rauscht die Debatte vor allem zwischen Rechten in der CSU und Linken bei den Grünen durch ein Nadelöhr: der Familiennachzug von Menschen, die in Deutschland als „subsidiär Schutzbedürftige“ vorerst bleiben dürfen.

Um wen es geht, wird kaum noch erklärt

Das Schicksal der „Subsidiären“ ist zum Machtpoker bei Jamaika geworden. Alle Verhandler markieren diesen Familiennachzug als „rote Linie“, in die eine oder andere Richtung. Alle Seiten bringen Studien für ihre Argumente, nennen Prognosen, meist die, die am besten in die eigene politische Linie passen. Worum es hinter dem Schlagwort „Familiennachzug“ geht, wird kaum noch erklärt.

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    Über wen reden wir? In Deutschland gewährt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verschiedene Formen des Schutzes für Menschen, die hier Asyl beantragen: Wer durch den Staat in seinem Heimatland politisch verfolgt wird, erhält drei Jahre Schutz nach dem deutschen Grundgesetz (Artikel 16a). Das trifft in 2017 laut BAMF-Entscheider bisher nur auf etwa 4000 Schutzsuchende zu.

    120.000 Flüchtlinge mit Schutzstatus

    Die von Deutschland unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention fasst das Asyl weiter. Schutz erhält demnach auch, wer aufgrund seiner „Rasse“, Religion oder Nationalität durch nicht-staatliche Gruppen verfolgt wird – etwa Terrorgruppen oder Clans. In Konflikten in Irak, Syrien, aber auch mehreren afrikanischen Staaten greift genau das. So erhielten bisher in 2017 rund 120.000 Flüchtlinge diesen Schutzstatus.

    Wer in diese beiden Gruppen fällt, darf schon jetzt seine enge Familie nachholen – etwa Ehepartner oder minderjährige Kinder (prekär Untergebrachte und Kranke, also Härtefälle, sollen in den Verfahren Priorität haben). Diese größte Gruppe der anerkannten Flüchtlinge in Deutschland ist von der aktuellen Debatte also gar nicht betroffen.

    „Subsidiär“ – Schutz auf Zeit

    Das BAMF stellte in 2017 bisher aber auch rund 100.000 Entscheidungen für „subsidiären Schutz“ aus – vor allem an Syrer und Iraker. Niemand aus dieser Gruppe ist laut BAMF politisch oder aufgrund etwa seiner Religion verfolgt, aber jedem droht schwerer Schaden, würde man sie oder ihn zurückschicken: Folter, Todesstrafe, Lebensgefahr durch Bombenangriffe oder andere Kriegshandlungen. Diese Menschen sollen nur auf Zeit hier bleiben, jedes Jahr wird die Gefahrenlage in den Heimatländern laut BAMF geprüft. Die „Subsidiären“ dürfen ihre Familien nicht nachholen.

    Diese „Aussetzung des Familiennachzugs“ hatte die alte Regierung von Union und SPD unter dem Druck der hohen Zahl an Flüchtlingen, die seit 2015 über die Balkanroute kamen, nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht im März 2016 beschlossen. Allerdings vorerst für zwei Jahre. Im März 2018 endet diese Frist.

    Die CSU will sie unbedingt auf unbestimmte Zeit verlängern, und damit signalisieren, dass eine neue Regierung den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen hart begrenzt. Die Grünen sind dagegen, pochen auf den Schutz der Familie, der auch im Grundgesetz manifestiert wird, und setzen auf eine bessere Integration von Geflüchteten, wenn ein Vater seine Frau und Kinder bei sich hat.

    Verschiedene Prognosen – je nach politischer Linie

    Nur wie viele kommen, wenn diese Frist planmäßig im März endet? Auch darüber wird gestritten – jede Partei argumentiert mit eigenen Schätzungen, oft passend zur politischen Linie. Politiker der Union warnten im Wahlkampf vor Hunderttausenden. Die Grünen sprachen von nur 70.000 Syrern und Irakern. Die Bundesagentur für Arbeit nannte einen „Nachzugs-Faktor“ von 0,34 Angehörigen pro Flüchtling. Die geringeren Zahlen erklären sich laut deren Experten daraus, dass sich Kinder und Ehepartner bereits mehrheitlich in Deutschland befinden und zudem viele asylsuchende junge Männer ledig sind.

    Das BAMF rechnete 2016 mit 0,7 bis 1,1 Angehörigen bei Syrern und etwa 1,3 bis 1,9 Menschen pro Pakistaner, der „subsidiär“ unter Schutz steht. Meist werden Asylbewerber aus Pakistan jedoch ohnehin gleich abgelehnt, wie auch viele Menschen aus Ghana, Nigeria oder den Maghrebstaaten. Relevant bleibt beim Familiennachzug vor allem die Gruppe der Syrer. Tausende klagen derzeit vor deutschen Gerichten gegen die Entscheidung, nicht als „echter Flüchtling“, sondern nur als „Subsidiärer“ zu gelten. Viele klagen mit Erfolg. Sie können ihre Familien nachholen.

    Viele halten derzeit den Faktor 0,7 bis 1,0 Angehörige pro Flüchtling für politische Verhandlungen angebracht. Es ist eine Rechnung mit vielen Variablen.

    Die Botschaften entscheiden

    Von Januar 2015 bis Ende September 2017 wurden nach Angaben des Auswärtigen Amts weltweit 265.400 Anträge auf Familienzusammenführung über das Visumsverfahren genehmigt: 2016 rund 103.800, im Jahr davor mehr als 72.600 und in diesem Jahr bis Ende September 89.000 Anträge. Darunter befanden sich mehr als 100.000 Visa für Syrer und Iraker.

    Das Auswärtige Amt schätzte auch auf Basis dieser Daten im Sommer, dass 2018 zwischen 200.000 und 300.000 Syrern und Irakern zusätzlich als Angehörige nach Deutschland reisen könnten. Darin sind dann allerdings geschätzte 120.000 Fälle bereits eingerechnet, die ab März 2018 hinzukommen, falls die Aussetzung des Familiennachzugs für „Subsidiäre“ endet.

    Viele Anfragen im Libanon

    Zuständig für die Visa zum Familiennachzug sind die deutschen Botschaften im Ausland. 2016 erteilten die Vertretungen etwa 50.000 Visa für syrische und irakische Mütter, Väter und Kinder zum Familiennachzug. Allein in der Botschaft in Beirut waren im Sommer 2017 aber etwa noch 100.000 Anfragen für Visa-Prüfungen von Angehörigen in der Warteschleife. Die Diplomaten kommen nicht mehr hinterher.

    Im Oktober hieß es nach Informationen dieser Redaktion in der Bundesregierung: 2018 können dort bis zu 130.000 Visa zum Zwecke des Familiennachzugs erteilt werden. Mehr lassen die Kapazitäten in den Vertretungen nicht zu. Es wäre ein Limit, dass vorerst gilt. Egal, was die Sondierer von Union, FDP und Grünen nun in Berlin beschließen.