Trier. Die scheidende Familienministerin Katarina Barley (SPD) über die „#MeToo“-Bewegung im Internet und die Versäumnisse der Kanzlerin.

Katarina Barley ist angriffslustig. Die #MeToo-Bewegung im Internet sei immens wichtig, findet sie. Unter diesem Schlagwort beenden Millionen Frauen und Männer das Schweigen über sexuelle Belästigung im Alltag. Dadurch wurde eine hitzige Debatte über Sexismus, Macht und das Verhältnis von Frauen und Männern in der deutschen Gesellschaft angestoßen. In den letzten Wochen im Amt bezieht die SPD-Familienministerin in ihrem Abgeordnetenbüro noch einmal Stellung, sieht die Kanzlerin in der Pflicht, die Führungskräfte, aber vor allem die Frauen selbst. Laut „Nein“ zu sagen und sich nicht gegenseitig fertigzumachen.

Millionen Frauen weltweit beteiligen sich gerade an der #MeToo-Kampagne gegen Sexismus und berichten über ihre Erfahrungen. Wie finden Sie diese Aktion?

Katarina Barley: Sexismus ist Alltag. In der einen Branche mehr als in der anderen. Deshalb ist die Debatte, die durch #MeToo ausgelöst wurde, immens wichtig. Andererseits finde ich es auch frustrierend. Weil wir das Thema Sexismus immer wieder diskutieren und sich nicht viel ändert.

Es gab ähnliche Aktionen wie beispielsweise #aufsschrei 2013. Damals wurde bekannt, dass der FDP-Politiker Rainer Brüderle zu einer Journalistin mit Blick auf ihren Busen gesagt haben soll, sie könne gut ein Dirndl ausfüllen. Hat sich seitdem nichts verändert?

Barley: Die Fortschritte sind klein. Aber was sich seitdem verändert hat, ist das Selbstbewusstsein der Frauen. Offen zu erzählen, was ihnen passiert ist oder wie mit ihnen umgegangen wird.

Katarina Barley (SPD) beim Interview mit unserer Reporterin Diana Zinkler.
Katarina Barley (SPD) beim Interview mit unserer Reporterin Diana Zinkler. © Jennifer Weyland | Jennifer Weyland

Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli wurde auf einem beruflichen Termin von einem Diplomaten als unerwartet „jung“ und „auch noch so schön“ begrüßt. Sie wertete das als Sexismus, andere als Kompliment. Was sagen Sie?

Barley: Männer und Frauen nehmen solche Situationen unterschiedlich wahr. Die meisten Männer meinen so einen Satz gar nicht böse. Sie wollen etwas Nettes sagen, merken aber nicht, dass ihre Worte herablassend und gönnerhaft sind. Bei Sexismus geht es nicht ums Flirten, es geht immer um Macht. Wenn einer zu Sawsan Chebli sagt, er hätte nicht erwartet, dass sie so jung und schön ist, heißt das im Umkehrschluss, hätte er sie auf der Straße gesehen, hätte er nicht gedacht, dass sie Staatssekretärin ist. Das ist der Subtext – und der ist respektlos. Der Mann hat sie als Frau in dieser professionellen Situation klein gemacht.

Viele Männer beziehen in der Debatte nicht wirklich eine Position ...

Barley: Die Zurückhaltung kommt durch ihre Unsicherheit. Männer wissen oft nicht, warum ihre Aussagen sexistisch sind. Weil sie nicht unterscheiden, in welchem Kontext sie sprechen. Wenn sich dann eine Frau darüber beschwert, dann wird gesagt: Die will sich doch nur wichtig machen.

Ist das ein Grund, warum Frauen im Alltag über so etwas eher schweigen?

Barley: Das kennen wohl die meisten Frauen, in so einer Situation zu schweigen und zu denken: Der hat es einfach noch nicht kapiert. Der weiß es nicht besser. Außenstehende wiederum denken manchmal, die spielt mit ihren körperlichen Reizen, die zieht sich schön an, die schminkt sich, um vorwärtszukommen. Und dann beschwert sie sich darüber?

Ist das ein Konflikt, den sie selbst als Frau erleben?

Barley: Ja, ständig. Ich denke morgens oft darüber nach, wie wird meine Kleidung in dem Umfeld wahrgenommen. Diese Gedanken ärgern mich. Aber trotzdem wird mein Aussehen und meine Kleidung oft hervorgehoben, ob jetzt von männlichen Kollegen oder den Medien.

Ein Beispiel?

Barley: Auf einer Veranstaltung im Willy-Brandt-Haus habe ich kürzlich ein ärmelloses roséfarbenes Kleid getragen. Weil es in dem Saal sehr heiß war, ließ ich die Jacke weg. Am nächsten Tag veröffentlichte eine Zeitung ein Foto, wie ich auf dem Podium meine Rede halte. Und die Überschrift darüber lautete: „Das ärmellose Kleid an einem heißen Tag“. Was soll das? Da stand nichts über meine Rede. Und ich war damals schon Generalsekretärin der SPD. Ich glaube, das war sogar nett gemeint. Mich würde das auch nicht so stören, wenn ich in anderen Zusammenhängen nicht hören würde: Die ist eben auch nur da, weil sie eine Frau ist.

Wird Sexismus auch benutzt, um den politischen Gegner zu diskreditieren? Wie das auch schon Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig anprangerte?

Barley: Natürlich. Es wird Frauen ein Stempel aufgedrückt, der sie schwächt. Eine Frau als „weinerlich“ zu bezeichnen, ist nicht nur unverschämt, sondern derjenige, der das sagt, besetzt damit gleich ein Bild im Kopf vieler anderer. Weil eben viele einer jungen, gut aussehenden, blonden Frau – auch noch aus dem Osten – nicht zutrauen, dass sie eine starke Ministerin ist. Und das hat wieder etwas mit Macht zu tun. Das ist ein typisch männliches Verhalten, um eine Frau kleinzuhalten.

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    Gerade schloss sich die schwedische Außenministerin der #MeToo-Kampagne an. Ein hoher Politiker griff bei einem offiziellen Abendessen nach ihrem Oberschenkel. Ist Ihnen so etwas passiert?

    Barley: So krass noch nicht. Aber bei Fototerminen, gibt es schon den einen oder anderen, der bei der Umarmung oder wenn man eng beieinander steht, seine Hand mal länger auf der Taille lässt oder fester zugreift. Einen gab es, sehr viel älter als die meisten, der packte besonders fest zu. Wegen seines Alters habe ich das aber abgetan.

    Wie befreien Sie sich in so einer Situation?

    Barley: Oft sage ich dann nichts und ärgere mich danach. Meist reagiere ich mit einem humorvollen Unterton. Dass ich wirklich mal gesagt habe: So nicht! Die Male kann ich an einer Hand abzählen.

    Hat sich das jetzt als Ministerin geändert?

    Barley: Ja, da spüre ich mehr Respekt. Ich bin aber auch eine rheinische Frohnatur. Negative Erlebnisse merke ich mir selten.

    Der Missbrauchsbeauftragte des Bundes fordert von der künftigen Bundesregierung mehr Engagement im Kampf gegen Sexismus und sexuelle Übergriffe. Wie könnte das gehen?

    Barley: Ein Meilenstein war die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. Und zuletzt haben wir das Nein-heißt-Nein-Gesetz verabschiedet. Es ist natürlich schwierig, in solchen Situationen den Beweis zu erbringen, dass man als Frau „Nein“ gesagt hat. Aber es ist wichtig, dass der Staat eine klare Position einnimmt.

    Braucht es ein Sexismus-Gesetz?

    Barley: Wir hätten gern so ein Gesetz für die Werbung umgesetzt, denn es ist bewusstseinsbildend, wie Frauen und Männer dort dargestellt werden. Bei Äußerungen wie gegenüber Sawsan Chebli ist das natürlich strafrechtlich recht schwierig. Weil es um den Gesamtzusammenhang geht. Was privat okay sein mag, ist im professionellen Bereich diskriminierend. Was körperliche Übergriffe angeht, wie Hand aufs Knie legen, sollten wir juristisch schärfer werden.

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      Was verstehen Sie unter Sexismus?

      Barley: Eine Aussage ist dann sexistisch, wenn sie ein Über- und Unterordnungsverhältnis herstellt. Wenn durch Abwertung ein Machtverhältnis entsteht.

      Wo steht unsere Gesellschaft?

      Barley: Das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern muss sich in Deutschland ändern. Das hat auch etwas mit fehlender Lohngerechtigkeit zu tun, mit dem Frauenanteil in den Parlamenten, mit einem Frauenanteil in Führungspositionen in Unternehmen. All das muss kommen, damit sich die gönnerhafte, anmaßende, abwertende, übergriffige Einstellung vieler Männern ändert.

      Was können die Frauen tun?

      Barley: Uns nicht gegenseitig in den Rücken fallen, wenn eine sich mal wehrt.

      Wie erklären Sie Ihren beiden Söhnen, was geht und was nicht?

      Barley: Meine Söhne sind Weltklasse. Aber natürlich muss ich manchmal etwas erklären. Einmal fragte mich mein Jüngster: Was ist eigentlich ein Bürgermeister? Ich antwortete, das ist der Chef einer Stadt – oder die Chefin, wenn es eine Bürgermeisterin ist. Und er sagte erstaunt: „Aber, eine Frau kann doch keine Chefin sein.“ Da war er allerdings noch sehr klein – das sagt er heute nicht mehr ...

      Diese Generation Kinder kennt doch nur Angela Merkel als Bundeskanzlerin, das müsste doch eine Wirkung haben.

      Barley: Aber Angela Merkel wird nicht so stark als Frau abgespeichert. Weil sie so wenig aktiv für Frauen macht. Immer, wenn es darum geht, die 21 Prozent Lohnlücke zwischen Frauen und Männern auszugleichen oder eine starke Frauenquote einzuführen, ist sie leider nicht an der Seite der Frauen. Das macht es nicht unbedingt leichter für uns.