Essen/Ankara. Martin Schulz brachte im TV-Duell das mögliche Ende der EU-Beitrittsverhandlung mit der Türkei ins Spiel. Die Türkei reagiert hart.

„Wenn ich Kanzler werde, werde ich (...) die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union abbrechen.“ Mit diesem Satz überraschte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz am Sonntag beim einzigen Fernsehduell mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Überraschend war diese Aussage nicht nur für die Bundeskanzlerin, die sichtlich irritiert entgegnete, dass sie noch am Freitag mit Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) über das Thema gesprochen habe und zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede davon war, dass die SPD die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen wolle.

Auch im Gespräch mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ vor rund zwei Wochen erteilte Schulz einem Abbruch der Beitrittsverhandlungen noch eine Absage. Erdogan interessiere sich nicht für die EU. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen würde den türkischen Staatspräsidenten nicht weiter kümmern, erklärte Schulz. Damit könne Deutschland Erdogan nicht beeindrucken.

TV-Duell: Das sind die drei wichtigsten Szenen

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    Scharfe Reaktion aus Ankara auf Schulz-Aussage

    Auf seine Aussage im TV-Duell („Es ist ein Punkt erreicht, in dem wir die wirtschaftlichen Beziehungen, die Finanzbeziehungen, die Zollunion und die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union beenden müssen“) folgte am Montag eine scharfe Reaktion aus Ankara: „Im Moment kehrt Europa zu den Werten von vor dem Zweiten Weltkrieg zurück“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu bei einem Besuch im slowenischen Bled. Dabei handele es sich um „Brutalität, ebenso Faschismus und Gewalt, Intoleranz und gegenseitige Vernichtung“.

    Das türkische Außenministerium erklärte außerdem: „In Deutschland und Österreich betreiben die Spitzenkandidaten der Parteien eine populistische und anti-türkische Politik, um innenpolitisch zu punkten. Diese Politiker haben sich von den Werten der Europäischen Union entfernt und bereiten der weiteren Ausbreitung der Islamfeindlichkeit und des Fremdenhasses den Boden. Dabei sehen sie nicht, welche erfolgreiche Zukunft der Türkei auch ohne die EU bevorsteht.“

    Türkisches Außenministerium ermahnt europäische Politiker

    Außerdem nahm das Ministerium Bezug auf das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei und erklärte: „Als es darum ging, die EU während der Flüchtlingskrise vor einem großen Chaos zu retten, sind uns diese Politiker hinterhergerannt. Wir möchten sie nun ermahnen, sie die Beziehungen zur Türkei nicht aus populistischen Gründen gefährden.“

    Auch der Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat die Türkei-Kritik von Kanzlerin Angela Merkel und Martin Schulz beim TV-Duell zurückgewiesen.

    Dass die deutsche Politik sich „dem Populismus und der Ausgrenzung“ beuge, schüre Diskriminierung und Rassismus, teilte Erdogan-Sprecher Ibrahim Kalin in einer Reihe von Twitter-Nachrichten mit. Dass die grundsätzlichen Probleme Deutschlands und Europas ignoriert und stattdessen Erdogan und die Türkei angegriffen worden seien, „ist Ausdruck der Kurzsichtigkeit in Europa“.

    Diese Deutschen waren in türkischer Haft

    Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation.
    Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation. © dpa | Soeren Stache
    Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte.
    Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte. © REUTERS | HANDOUT
    #FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels.
    #FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance /
    Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt.
    Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. © dpa | Lefteris Pitarakis
    Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt.
    Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt. © Facebook/Mesale Tolu | Facebook/Mesale Tolu
    Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben.
    Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben. © dpa | Linda Say
    Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen.
    Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen. © dpa | Emrah Gurel
    Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“
    Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“ © REUTERS | OSMAN ORSAL
    Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden.
    Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden. © dpa | Privat
    Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören.
    Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören. © privat | privat
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    Schulz’ Forderung hat zurzeit nur Symbolwert

    Über einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen müssten allerdings die Mitgliedstaaten einstimmig entscheiden, was wegen des Widerstands einzelner Mitglieder derzeit aussichtslos erscheint. Eine solche Forderung hat also zunächst einmal nur Symbolwert.

    Es gibt aber noch einen anderen Weg: In den Leitlinien für die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist vorgesehen, dass die Gespräche bei einem „schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß“ gegen europäische Grundwerte zumindest vorübergehend gestoppt werden. Konkret genannt sind die Prinzipien der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit.

    Es handelt sich also genau um die Prinzipien, bei denen die Bundesregierung klare Verstöße in der Türkei sieht. Eigentlich müsste die EU-Kommission in einem solchen Fall das Aussetzen der Verhandlungen empfehlen. Bei einer Abstimmung darüber müssten dann nur 16 der insgesamt 28 Mitgliedsstaaten zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten. Wegen der weitreichenden politischen Wirkung hat die EU-Kommission aber bisher keine solche Empfehlung abgegeben.

    Dieser Artikel ist zuerst auf WAZ.de erschienen.