Berlin. Außenminister Gabriel hat in der SPD für Aufregung gesorgt. Er sprach Schulz indirekt ab, noch Chancen auf die Kanzlerschaft zu haben.
Drei Wochen vor der Bundestagswahl sieht sich der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel zu einer ungewöhnlichen Klarstellung veranlasst: „Das Rennen um die Kanzlerschaft ist völlig offen“, versicherte Gabriel am Donnerstag in einer persönlichen Erklärung. Unterstellungen, er glaube nicht mehr an einen Wahlerfolg der SPD, seien „Unsinn“.
Die Erklärung im Wahlkampf-Sprech, als „Richtigstellung zur Berichterstattung“ deklariert, klingt banal. Und dennoch wurde das Wort des Ex-Vorsitzenden in der SPD sehnlich erwartet. Denn am Abend zuvor hatte sich der Außenminister in einem Live-Interview zu Sätzen hinreißen lassen, die als Absage an die parteioffizielle Erwartung eines SPD-Wahlsiegs verstanden werden durften.
Gabriel: Große Koalition ist nicht sinnvoll
„Wenn mich jemand fragt, was sagen Sie eigentlich zur Fortsetzung der großen Koalition – soll ich dann sagen, das ist eine gute Idee?“, erklärte Gabriel gut gelaunt in einem im Internet übertragenen Gespräch mit dem Magazin „Spiegel“.
Der SPD-Politiker fügte gleich hinzu, warum er das nicht für eine gute Idee hält: „Weil, dann kann der Schulz schon mal einpacken, dabei wird er dann nicht Kanzler.“ Und wenig später erklärte er noch einmal: „Eine große Koalition ist deshalb nicht sinnvoll, weil die SPD dann nicht den Kanzler stellen kann.“ Mit Angela Merkel als Kanzlerin werde das schwierig.
Gabriel sprach aus, was bisher nur geraunt wurde
Aber wieso wäre Merkel in der nächsten großen Koalition zwangsläufig Kanzlerin? Scheinbar beiläufig hatte Gabriel öffentlich eine Erwartung ausgesprochen, die in der SPD-Spitze zwar weitverbreitet ist – die bisher aber nur hinter vorgehaltener Hand formuliert wird:
Die SPD wird bei der Bundestagswahl ihr Ziel, stärkste Partei zu werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit verfehlen – zu groß ist der Abstand in den Umfragen, die die Sozialdemokraten zwischen 22 und 24 Prozent taxieren, die Union indes bei 37 und 40 Prozent. „Um das aufzuholen, müsste schon ein Wunder passieren“, meint etwa der Chef des Forsa-Instituts, Manfred Güllner.
Martin Schulz hofft auf die Unentschlossenen
Mit Ausnahme des Jahres 2005 habe die höchste Zuwachsrate, die die SPD in den letzten drei Monaten vor einer Bundestagswahl erreichen konnte, bei drei Prozentpunkten gelegen, rechnet Güllner vor. Selbst Gerhard Schröders furiose Aufholjagd 2005 brachte am Ende nur ein Plus von sechs Prozent. Selbst das würde der SPD jetzt nicht mehr reichen. So weit verbreitet ist die Einschätzung, die SPD werde nur auf Platz zwei landen, dass es selbst Gabriels Interviewern gar nicht einfiel nachzuhaken, wieso Schulz nicht auch Kanzler einer großen Koalition werden könne.
Natürlich kennen der Kandidat und seine Helfer die Zahlen und die Einschätzung der Demoskopen, auch wenn sie jetzt auf das große Lager der noch unentschlossenen Wähler setzen – und insgeheim auch darauf, dass die Kanzlerin im Wahlkampf doch noch einen Fehler macht.
Dreierbündnisse mit Schulz als Kanzler nicht ausgeschlossen
Im Willy-Brandt-Haus kursieren Schätzungen, dass die Union im für die SPD günstigsten Fall auf 35 Prozent absackt, die Sozialdemokraten irgendwo bei 27 bis knapp 30 Prozent landen – mithin besser als bei der letzten Bundestagswahl und deutlich besser als die Prognosen zu Jahresanfang. „Damit könnte sich Schulz immer noch sehen lassen“, sagt ein führender SPD-Mann.
Eine Regierungsbeteiligung der SPD sei dann zumindest möglich: Nicht völlig ausgeschlossen, dass Schulz doch noch Kanzler einer rot-rot-grünen oder rot-grün-gelben Regierung würde. Die Rolle als Juniorpartner einer großen Koalition stünde wohl offen. Alles besser als der Gang in die Opposition, den führende Genossen als denkbar schlimmste Aussicht fürchten.
Grüne und Linke reagierten schnell mit Spott
Auch Schulz selbst denkt schon mal an die nahende Enttäuschung: Er hat vor einigen Wochen bereits signalisiert, dass er auch im Fall einer Wahlniederlage SPD-Chef bleiben will. Manche Genossen ärgerte das: Öffentlich eine Niederlage einzukalkulieren, gilt im Wahlkampf als tabu, schon um die Mobilisierung der eigenen Basis nicht zu gefährden.
Deshalb war die Verwunderung in der SPD-Zentrale groß, als Gabriel nun im Interview das Tabu brach und signalisierte, die Sozialdemokraten würden nicht als erste ins Ziel gehen. Grüne und Linke reagierten schnell mit Spott und höhnten, die SPD gebe die Wahl schon verloren – obwohl sich die Opposition seit Wochen mitleidig über die mageren Aussichten der Sozialdemokraten äußert.
Gabriel versucht, Irritationen zu beheben
Als Gabriel nach der Lektüre erster Agentur-Meldungen am Donnerstagfrüh merkte, für welche Irritationen er gesorgt hatte, nahm er Kontakt mit der SPD-Zentrale auf, um die Aufregung zu dämpfen. Doch auch in der am Vormittag verbreiteten Erklärung behauptete Gabriel nicht ausdrücklich, dass er noch an Platz eins für die SPD glaube.
Wohl aber versicherte er, dass aus seiner Sicht das „Rennen um die Kanzlerschaft“ noch völlig offen sei. Der Wahlkampf habe erst richtig begonnen, es gebe die Chance „auf Regierungsmehrheiten jenseits der CDU/CSU“, betonte er.
Die Karriere des Martin Schulz
Martin Schulz gibt sich unverdrossen
Erst am Nachmittag lieferte Gabriel den entscheidenden Satz nach: „Die letzten Wochen und Monate haben doch gerade gezeigt, dass auch die SPD die Chance hat, vor CDU und CSU zu liegen“, erklärte er nun. Für Kanzlerkandidat Schulz ist die Sache damit erstmal erledigt, die Parteizentrale spielte die Angelegenheit herunter.
Unverdrossen verkündete Schulz, sein Ziel sei es, die amtierende Bundesregierung abzulösen und Kanzler zu werden. Nichts käme dem Kandidaten jetzt ungelegener als eine Debatte über seine schlechten Wahlaussichten – so kurz vor dem TV-Duell am Sonntag.
Genossen werfen Gabriel Ego-Trip vor
Aber auch für Gabriel ist der Klartext riskant: Viele Genossen werfen dem Außenminister ohnehin vor, im Wahlkampf auf einem „Ego-Trip“ zu sein und sich zu wenig in den Dienst des Kanzlerkandidaten zu stellen.
Gabriel weist das zurück und betont das freundschaftliche Verhältnis zum Kanzlerkandidaten: „Meine Rolle ist es, Martin Schulz bei seiner Kandidatur im Wahlkampf zu unterstützen“, erklärte er im Interview. Meine Rolle ist nicht, so zu tun, als gäbe es mich nicht.“