Seoul. Fast 70 Jahre sind sie geteilt: In Südkorea herrscht eine Mischung aus Ignoranz und Fatalismus gegenüber der Bedrohung aus dem Norden.

Kim Ji-su hat am Dienstagnachmittag noch nichts von der Rakete gehört. „Ich habe mir freigenommen“, sagt sie entschuldigend, „da höre ich kein Radio.“ Sie reist viel beruflich und bekommt häufig von ihren Freunden in Europa besorgte SMS wegen Raketentests geschickt. Da kann man schon einmal die Übersicht verlieren. Aber sie kann sich überhaupt nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Angst deswegen hatte. „Vielleicht als ich ein Kind war?“ Jetzt ist sie 44 Jahre alt und sie will auch gar nicht wissen, was für eine Rakete das war. „Ach, diese Meldungen kann ich nicht mehr ernst nehmen“, sagt sie genervt. „Trump oder Kim Jong-un – ich weiß gar nicht, wer schlimmer ist.“

Kim Ji-su hat sich an den Status quo gewöhnt

Kim Ji-su lebt in Seoul, 50 Kilometer von Nordkoreas Grenze entfernt, 200 Kilometer von Pjöngjang, wo Diktator Kim Jong-un lebt – und 300 Kilometer von Yongbyeon, wo nukleare Sprengköpfe vermutet werden. Sie lebt im Zentrum eines der gefährlichsten Konflikte der Welt; aber wie fast alle 51 Millionen Einwohner Südkoreas sorgt sie sich darum nicht mehr, nach 67 Jahren Teilung.

Wie die meisten hat auch sie sich so an den Status quo gewöhnt und begegnet ihm mit einer Mischung aus Indifferenz, Wut und bewusster Ignoranz. Zu häufig stand die Drohung im Raum, ihre Heimatstadt Seoul werde „in ein Flammenmeer“ verwandelt.

Südkoreas Präsident Moon Jae-in lässt die Militärübungen ausweiten

Gleichzeitig aber gibt es kein zweites Land in der Welt, dessen Medien und Politiker schneller reagieren, wenn Kim Jong-un wieder mit einem weiteren Raketentest die Weltgemeinschaft provoziert. Kurz nach sechs Uhr morgens tauchte die erste Eilmeldung über den Raketentest auf südkoreanischen Webseiten auf. Der gerade erst gewählte Präsident Moon Jae-in ließ sofort den Nationalen Sicherheitsrat einberufen, um die „schweren Provokationen“ zu diskutieren. Zusammen mit seinem Sicherheitsberater Chung Eui-yong entschied er, die militärischen Übungen an der koreanischen Grenze auszuweiten.

Der Deutsche Lars-André Richter beschreibt die Reaktion Moons als ungewöhnlich heftig. Der Leiter der Naumann-Stiftung sieht in Moons Reaktion auch den Willen, mit einer eigenen Stimme zu reagieren. „Südkorea hat derzeit häufig das Gefühl, von den USA übergangen zu werden.“ So sehe es in der Öffentlichkeit aus, als verhandelte US-Präsident Donald Trump direkt mit Kim Jong-un selbst. „Zudem gibt es seit Trumps Wahl keinen US-Botschafter in Seoul und selbst der Expertenposten im State Department für Ostasien ist bisher nicht besetzt.“

Der „Bruder“ im Norden ist zugleich der Feind

Kang Hae-ryun kennt beide Seiten, sie hat in den USA studiert und ist vor einigen Jahren wieder zurück in ihre Heimat Seoul gezogen. Die 29-Jährige ist besorgter als Kim Ji-su. Sie beschreibt ihre Stimmung häufig als zweigeteilt. „Einerseits habe ich Angst, wenn ich das lese, andererseits habe ich mich so daran gewöhnt, dass ich einfach normal weiterlebe.“ Neulich fragte sie ihre Mutter, ob diese keine Angst habe in Seoul, wegen all der Meldungen. „Meine Mutter lachte zuerst und sagte laut: ‚Überhaupt nicht‘“, erzählt Kang Hae-ryun, „dann aber wurde sie ganz ruhig und sagte: ‚Aber wenn er etwas macht, dann sind wir tot, oder?‘“

Ähnlich gemischte Gefühle haben viele Südkoreaner dem Norden gegenüber: einerseits der „Bruder“, aber auch der Feind. Das wird wieder deutlich werden während der Olympischen Winterspiele, die in 168 Tagen in Südkorea beginnen. In Werbefilmen tritt Südkorea nicht mit seiner Nationalflagge an, sondern mit einer fiktiven Version, auf der die Umrisse der wieder vereinten Halbinsel zu erkennen sind. Das olympische Feuer, Symbol für Frieden, wird öffentlichkeitswirksam in den Wochen vorher außerdem von 7500 Menschen quer durch Südkorea getragen. Die Zahl ist kein Zufall, sie nimmt Bezug auf 75 Millionen Koreaner, die zusammen in beiden Ländern leben.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod“

Lars-André Richter hat bisher keinen Notfallrucksack gepackt. „Aber sagen wir so: Ich wüsste schon, was ich zuerst schnell einpacken würde.“ Und Kim Ji-su hat dann ihren Tag einfach weiter so geplant, als hätte es keinen Raketentest gegeben. Sie hat eine Freundin getroffen, hat ihr Auto gewaschen, hat ein Paket für ihre Schwester zur Post gebracht. Und erst auf Nachfrage sagt sie zwei Sätze, die südkoreanischer nicht sein könnten.

„Wirklich, wir wollen am liebsten nicht einmal daran denken.“ Mit „wir“ meint sie alle Südkoreaner, mit „daran“ einen dritten Weltkrieg. Sie macht eine Pause und sagt dann den zweiten Satz, der so fatalistisch ist, wie man nur 50 Kilometer entfernt vom 38. Breitengrad sein kann: „Okay, selbst wenn es passiert, ich bin über 40 Jahre alt, alleinstehend, ohne Kinder, ich habe keine Angst vor dem Tod.“