Berlin. Immer öfter kommt es zu Lieferengpässen bei Impfstoffen, Antibiotika und Krebsmitteln. Krankenkassen fordern Politiker zum Handeln auf.

Das Arzneimittel heißt Turixin und ist eine Nasensalbe. Es soll Bakterien aus der Nasenschleimhaut entfernen – jedenfalls in der Theorie. In der Praxis ist das Mittel gerade nicht lieferbar. Der Hersteller GlaxoSmithKline hat „Produktionsprobleme“. Ärzte, die Turixin verordnen, müssen eine Apotheke beauftragen, die Salbe für Patienten einzeln anzufertigen. Eine aufwendige und auch teure Angelegenheit.

Die Nasensalbe ist ein harmloses Beispiel. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – abgekürzt: BfArM – führt seit vier Jahren eine Liste von Medikamenten, bei denen es Engpässe gibt. Sie wird regelmäßig aktualisiert. 50 Präparate sind dort derzeit als nicht lieferbar vermerkt. Darunter sind weitere Antibiotika, aber auch blutdrucksenkende Mittel. Auch ein wichtiges Krebsmedikament mit dem Namen Melphalan steht immer wieder darauf.

Produktion in Italien lahmgelegt

Das Besondere an diesem Arzneimittel: Es gibt – anders als bei der Nasensalbe – keine Alternative. Melphalan gilt als unverzichtbar bei einer bösartigen Erkrankung des Knochenmarks. Ein halbes Jahr lang, von März bis Juli dieses Jahres, war es nicht lieferbar. „Produktionsprobleme“, teilte der Hersteller Aspen Pharma mit. Seit mehreren Jahren schon können Patienten das Präparat über Monate hinweg nicht bekommen. Immer wieder ist die weltweit einzige Produktion in Italien lahmgelegt.

„Es gibt Engpässe, durch die Leib und Leben gefährdet werden“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Diese Fälle sind selten. Aber es gibt sie. Obwohl in Deutschland über 100.000 Arzneimittel zugelassen sind, „mehren sich seit ein paar Jahren die Fälle, in denen eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung nicht mehr gewährleistet ist“, heißt es in einer Mitteilung der staatlichen Behörde BfArM. Grund: „Zugelassene Arzneimittel sind nicht oder nicht in der erforderlichen Menge verfügbar.“ Auch wichtige Impfstoffe können Hersteller immer wieder nicht liefern.

Die Politik soll die Hersteller in die Pflicht nehmen

Seit mehr als einem Jahr suchen Politik, Krankenkassen und Pharmaindustrie nach einer wirksamen Lösung für das Problem – bisher ohne Ergebnis. „Die bisherigen Bestrebungen haben nicht gefruchtet“, stellt Bernd Heinemann, Verwaltungsratschef der Barmer, der zweitgrößten Krankenkasse, ernüchtert fest. Er fordert, dass die Politik die Pharmaindustrie mit klar definierten Ansagen zum Handeln zwingen soll: „Sie muss die Produzenten zur Vorratshaltung verpflichten.“ Meldungen über drohende oder bestehende Lieferengpässe müssten ebenfalls obligatorisch sein.

Und: „Eine Nichtbeachtung dieser Pflicht müsste geahndet werden“, so Heinemann. Die Politik solle über Sanktionen nachdenken. Denn ohne Strafen, glaubt der oberste Aufseher der Krankenkasse, seien alle bestehenden Pflichten „zahnlose Tiger“. Die Überwachung müssten das Bundesgesundheitsministerium und das ihm unterstellte Institut BfArM übernehmen. Im April 2016 hatten sich alle Beteiligten bei einem „Pharmadialog“ darauf verständigt, sich regelmäßig auszutauschen, die Versorgungslage zu beobachten und zu bewerten.

Medikamente durch gleichwertige Präparate ersetzen

„Um eine mögliche Gefährdung von Patienten zu verhindern, muss alles dafür getan werden, dass Lieferengpässe nicht zu Versorgungsengpässen werden“, lässt Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) eine Sprecherin ausrichten. Viel mehr aber ist bisher nicht geschehen. Alle Meldungen der Industrie über Engpässe sind bisher freiwillig. Ob das auf Dauer reichen wird, daran zweifelt auch der Präsident des BfArM Karl Broich: „Sollte es häufiger vorkommen, dass uns Versorgungsengpässe nicht gemeldet werden, dann brauchen wir nach meiner Überzeugung eine Meldepflicht“, sagt Broich. Man beobachte die Entwicklung „mit Sorge“.

Die Pharmaindustrie sieht die Lage weniger dramatisch. Nicht jeder Lieferengpass störe automatisch die Versorgung. „Die Patientenversorgung ist nur in ganz wenigen Fällen erschwert“, sagt ein Sprecher des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Meistens seien bestimmte Medikamente nur nicht in der entsprechenden Packungsgröße lieferbar. Sie könnten durch gleichwertige Präparate ersetzt werden. Aber: „Kritisch kann ein Lieferengpass bei Arzneimitteln werden, für die es nur noch wenige bis einen Hersteller auf dem Markt gibt.“

Kosten der Gesundheitsversorgung niedrig halten

Das ist tatsächlich immer häufiger der Fall, nicht nur bei dem Medikament gegen Knochenmarkkrebs. Auch für Antibiotika gibt es weltweit oft nur wenige Produzenten. Viele Unternehmen, die in Deutschland als Arzneimittelhersteller firmieren, lassen ihre Pillen und Tabletten von Tochterfirmen oder Fremdherstellern im europäischen Ausland oder gar in China und Indien fertigen und verpacken sie nur noch. Viele Konkurrenten kaufen deshalb sogar bei denselben Produzenten ein. „Weltweite Konzentration der Wirkstoffproduktion“ nennt das der Pharmaverband.

Dies sei „dem globalen Kostendruck im Gesundheitswesen geschuldet“. Mit anderen Worten: Wenn Politik und Krankenkassen die Preise von Medikamenten drücken, um die Kosten der Gesundheitsversorgung niedrig zu halten, dann können Lieferengpässe die indirekte Folge sein. Dementsprechend fordert der Pharmaverband BPI „die Abschaffung von Kostendämpfungsinstrumenten“.

Druck auf Unternehmen nicht erhöhen

Dazu gehören auch Rabattverträge, die Krankenkassen mit den Herstellern von Medikamenten schließen können, wenn es mehrere wirkstoffgleiche Medikamente gibt. Überhaupt würden die Krankenkasse für Medikamente, bei denen der Patentschutz abgelaufen ist – sogenannte Generika – derzeit nur noch sechs Cent pro Tagesbehandlung erstatten, klagt der Branchenverband Pro Generika. Wer die Produktion in Deutschland halten wolle, dürfe den Druck auf Unternehmen nicht erhöhen. Darüber müsse man nach der Bundestagswahl mit der Politik sprechen.

Auch die Kassen setzen auf die Wahl. Barmer-Vertreter Heinemann, der im Herbst bei der Sozialwahl seiner Kasse in seinem eigenen Amt bestätigt werden möchte, will dann seine Forderungen an die neue Bundesregierung herantragen: „Die Versorgung muss im Sinne der Patienten gewährleistet sein.“