Ankara/Brüssel. Der türkische Präsident hat die Bestellung russischer Luftabwehrraketen angekündigt. Der Nato missfällt dieser türkisch-russische Deal.

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan baut das Militär um und verärgert die Nato. Um die Putschgefahr ein für alle Mal zu bannen, setzt Erdogan ihm ergebene Islamisten auf Schlüsselpositionen im Offizierskorps. Gleichzeitig steht die Türkei unmittelbar vor dem Abschluss eines milliardenschweren Rüstungsgeschäfts mit Russland: Erdogan kündigt die Bestellung russischer Luftabwehrraketen an. Der Deal birgt für die Nato politischen Sprengstoff. Das Verteidigungsbündnis hält das Geschäft für ein höchst fragwürdiges Unterfangen.

Seit November 2016 verhandelt die Türkei mit Russland über die Lieferung von S-400 Luftabwehrraketen. Jetzt sind die Gespräche offenbar in der Zielgeraden: „Wir stehen bei dem Geschäft an einem guten Punkt und erwarten einen baldigen Abschluss“, erklärte kürzlich Ibrahim Kalin, der Sprecher des türkischen Staatschefs.

Erdogan selbst bestätigte in einer Rede vor Abgeordneten seiner Regierungspartei: „So Gott will, werden wir die S-400 bald in unserem Land sehen.“ Nach Informationen türkischer Medien will Ankara 2018 zunächst zwei Batterien mit jeweils vier Lenkwaffen aus Russland beschaffen. Zwei weitere Batterien sollen später in der Türkei montiert werden. Das Geschäft könnte ein Volumen von rund 2,5 Milliarden Dollar erreichen.

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    Systeme passen nicht zusammen

    Die Türkei sucht seit Jahren nach modernen Luftabwehrraketen. Jetzt schrillen in der Nato und in Washington die Alarmglocken. Denn das russische System ist nicht mit der Sicherheitsarchitektur der Allianz kompatibel. Es wäre „generell eine gute Idee, wenn Verbündete eine interoperable (kompatible) Ausrüstung beschaffen“, sagte Pentagon-Sprecher Jeff Davis. Das S-400-Luftwabwehrsystem gilt zwar als sehr leistungsfähig, aber um die S-400 sinnvoll zu nutzen, müsste die Türkei nach Meinung von Militärexperten ein eigenes Radarsystem aufbauen.

    Das würde weitere Milliarden verschlingen und Jahre dauern. Das sieht man bei der Nato in Brüssel genauso. Zwar verweist das Bündnis auf das Prinzip, wonach jeder der 29 Mitgliedstaaten frei ist zu entscheiden, wo er welches militärische Gerät kauft. Doch sogleich lässt ein Sprecher die deutliche Warnung folgen: „Für die Nato kommt es darauf an, dass die von den Alliierten beschaffte Ausrüstung zusammenpasst.“

    Durch Austausch drohte Abfluss sensibler Daten

    Den Großteil der Raketenabwehr besorgt in der Nato das US-Fabrikat Patriot. Daneben gibt es, ebenfalls aus den USA, das System THAAD. In Europa fertigt das französisch-italienisch-britische Konsortium Eurosam die Flugabwehrrakete Aster. Das russische Abfang-System S-400 ist nirgendwo im Bündnis im Einsatz. Um die Systeme kompatibel zu machen, müssten beide Seiten den jeweiligen Quellcode der Software offenlegen – es drohe der Abfluss sensibler Daten.

    Nur einmal hat in der Vergangenheit ein Nato-Staat auf einen Abfangschirm russischer Herstellung zurückgegriffen: Griechenland stationierte auf Kreta eine Staffel S-300 (Vorgänger von S-400). Dabei habe es sich von vornherein um ein nicht mit NATO-Rüstung verbundenes „Stand-alone-System“ gehandelt, heißt es im Bündnis. Die Nato habe in Anbetracht der Sondersituation zwischen den beiden Verbündeten Türkei und Griechenland davon weiter kein Aufhebens gemacht. Auch in Sachen S-400 wollen die Verantwortlichen in der Nato-Zentrale sich bis auf weiteres zurückhalten. Sie verweisen darauf, dass noch keinerlei offizielle Informationen vorlägen.

    Türkische Armee wird vollkommen umgebaut

    Auch die Armee selbst baut Erdogan um. Generalstabschef Hulusi Akar bleibt zwar im Amt, aber die Kommandeure des Heeres, der Luftstreitkräfte und der Marine wurden abgesetzt. Seit dem gescheiterten Putsch vor gut einem Jahr hat Erdogan 169 der 326 Generäle und Admiräle gefeuert. Mehr als 10.000 Soldaten wurden aus den Reihen der Armee entfernt – meist wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan als Drahtzieher des Putschversuchs sieht. Gegen 486 Personen, die unmittelbar an dem Putschversuch beteiligt gewesen sein sollen, wird seit vergangener Woche in Ankara verhandelt. Unter den Angeklagten ist auch der frühere Kommandeur der Luftstreitkräfte.

    Verpflichtende Einheitskleidung für alle Untersuchungshäftlinge

    Für alle des Terrorismus angeklagten Untersuchungshäftlinge hat Erdogan einheitliche Gerichtskleidung angekündigt. Mutmaßliche Putschisten müssten in Zukunft in braunen Overalls vor Gericht erscheinen. Alle anderen Terrorverdächtigen müssten im Gerichtssaal braune Hosen und Jacketts tragen. „Auf diese Weise werden sie der ganzen Welt bekannt gemacht“, so Erdogan. Bereits im Juli hatte Erdogan Uniformen ähnlich denen der Insassen im US-Gefangenenlager in Guantanamo für Putsch-und Terrorverdächtige in der Türkei angekündigt, wenn sie vor Gericht erscheinen. Auslöser war ein Untersuchungshäftling, der in einem T-Shirt mit der englischen Aufschrift „Hero“ („Held“) vor Gericht antrat. Türkeiweit waren daraufhin mehrere Menschen, die T-Shirts mit der Aufschrift „Hero“ trugen, festgenommen worden.

    Der in der Türkei inhaftierten deutschen Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu drohen unterdessen bis zu 15 Jahren Gefängnis. Ihr werden Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Die Bundesregierung fordert die Freilassung Tolus, des inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücels und des ebenfalls unter Terrorvorwürfen inhaftierten deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner.