Berlin. Die Zahl der Flüchtlinge, die Italien erreichen, steigt stark an. Die Regierung in Rom schlägt Alarm. Deutschland will dem Land helfen.

Es ist still – zumindest in Deutschland. Die Debatte um die Flüchtlinge ist in den Hintergrund gerückt. 2017 kommen weniger Menschen als in den vergangenen zwei Jahren an. Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben 111.616 Personen hierzulande Asyl beantragt. Ein Rückgang um 72 Prozent zum ersten Halbjahr 2016.

Doch die Krise ist zurück – größer als in der Vergangenheit. Bisher nicht so sehr in Deutschland, sondern in Italien. Bis zum Montag sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in diesem Jahr 110.374 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Mit 93.213 Migranten erreichten davon knapp 85 Prozent die EU über einen italienischen Hafen. An manchen Tagen retten Helfer und Küstenwache Tausende Geflüchtete aus der Seenot.

Italien bittet andere EU-Staaten um Hilfe in der Flüchtlingskrise

Italiens Regierung ruft um Hilfe, will nicht allein die Verpflegung und Unterbringung der Menschen stemmen und fordert mehr Geld von der EU. Das Land rief zudem andere Staaten dazu auf, ihre Häfen für Schiffe mit Geretteten zu öffnen – und blitzte damit ab. „Das unterstützen wir nicht“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).

Jetzt blockiert Italien die Verlängerung des EU-Militäreinsatzes vor der libyschen Küste. Man wolle das Mandat der Operation „Sophia“ prüfen, heißt es in Rom. Es sei nicht auszuschließen, dass Italien mit der Blockade Zugeständnisse anderer Staaten bei der Aufnahme von Migranten erzwingen wolle, sagen Diplomaten in Brüssel. Droht eine neue Eskalation der Krise im Mittelmeer?

EU-Soldaten sollen Schleuser bekämpfen

Schiffe der EU-Staaten sind gleichzeitig mit Schiffen von Nichtregierungsorganisationen wie Sea-Watch und Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer unterwegs. Auftrag der EU-Soldaten: Flüchtlinge retten und Schleuser bekämpfen. Doch für Italien ist der EU-Einsatz bereits seit einiger Zeit mehr Problem als Hilfe. Das liegt daran, dass sich die Regierung 2015 damit einverstanden erklärt hatte, dass am Rande des Einsatzes gerettete Migranten in italienische Häfen gebracht werden.

Wer mit italienischen Diplomaten spricht, hört Wohlwollen für das Engagement Deutschlands. Die Bundesregierung erklärte sich bereit, 750 Flüchtlinge pro Monat aus Italien aufzunehmen. Bisher sind es 500. Außerdem soll Italien eine Millionen Euro zusätzlich erhalten. Zumindest eine kleine Hilfe. Doch viele andere EU-Staaten halten still, helfen weniger oder gar nicht.

De Maizière will Fluchtursachen bekämpfen

Und auch de Maizière fordert die Lösung des Problems schon weit vor Italiens Küste. „Je früher man Menschen davon abhält, sich in die Hände von Kriminellen zu begeben, desto besser“, sagte er. Am besten fange man in den Heimatländern der Migranten an. „Man muss zunächst auf den Transitrouten ansetzen. Auch, weil viele unterwegs in der Wüste zu Tode kommen.“ Das Ziel: Fluchtursachen bekämpfen.

Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer

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    Dafür hat die Bundesrepublik bereits im Januar einen „Marshallplan mit Afrika“ vorgelegt. Teil davon ist das Programm „Compact with Africa“, eine gemeinsame Initiative der G20. Der Bund übernimmt zunächst Reformpartnerschaften mit Ghana, der Elfenbeinküste und Tunesien. „Im Mittelpunkt der Partnerschaften stehen der Ausbau erneuerbarer Energien, die Verbesserung der Energieeffizienz und die Entwicklung des Finanz- und Bankensektors“, sagte ein Sprecher des Entwicklungsministeriums.

    Aufnahmestellen in Italien sind voll

    Dadurch sollen vor allem bessere Bedingungen für Investitionen aus der privaten Wirtschaft geschaffen werden. Welche Maßnahmen dazu genau unternommen werden, bleibt derzeit nur vage. Die konkreten Pläne werden je nach Partnerland erst in den kommenden Monaten festgelegt. Einzelne afrikanische Vertreter als auch Hilfsorganisationen kritisieren die „Compacts“. Zweck sei es, für Unternehmen aus den Industrieländern Investitionsmöglichkeiten zu schaffen, sagt etwa die Wirtschaftsexpertin Jane Nalunga aus Uganda.

    Ein Großteil der Migranten, die es bis nach Italien schaffen, stammt aus westafrikanischen Ländern wie Nigeria, Guinea oder der Elfenbeinküste. Sie haben häufig nur geringe Chancen, in Europa bleiben zu dürfen. An einer Umverteilung der Ankommenden sind andere EU-Staaten entsprechend wenig interessiert. Und die Aufnahmestellen in Italien sind voll. Sowohl Italien als auch die Bundesregierung wollen Schlepperbanden in Libyen stärker bekämpfen. Das Problem: EU und Deutschland fehlt dafür ein verlässlicher Partner in dem nordafrikanischen Land.

    Kritiker sprechen von KZ-ähnlichen Verhältnissen

    Es herrscht Bürgerkrieg, die Zentralregierung hat keine Hoheit über weite Teile des Landes. Und die Lage der Geflüchteten ist schwierig. Die Deutsche Botschaft im Niger warnte Anfang des Jahres laut einem Bericht der „Welt“ vor „allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen“ in libyschen Flüchtlingslagern. Von „KZ-ähnlichen Verhältnissen in den sogenannten Privatgefängnissen“ ist die Rede. „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste“ seien an der Tagesordnung.

    Wer es bis nach Libyen schafft, will vor allem eines: schnell weg. Trotzdem kehren die wenigsten Menschen zurück in ihre Heimat, sie warten auf eine Chance zur Flucht nach Europa – obwohl die Route lebensgefährlich ist. Laut UNHCR starben 2017 schon 2360 Menschen. Viele werden kurz nach Ende der libyschen Hoheitsgewässer von Schiffen der Hilfsorganisationen aus Seenot gerettet.

    NGO’s stehen teilweise in der Kritik

    Bei den Regierungen in Berlin und Rom ist der Einsatz der Helfer umstritten. „Die Italiener untersuchen Vorwürfe gegen NGO’s: Dass Schiffe ihre Transponder abstellen – was streng verboten ist – und nicht zu orten sind; sie verschleiern ihre Position“, sagt de Maizière. Sein Amtskollege Marco Minniti habe ihm zudem gesagt, „dass die Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand ihre Positionslichter einschalten, um den Rettungsschiffen schon mal ein Ziel vorzugeben“. Das löse kein Vertrauen bei ihm aus, sagte de Maizière.

    Die NGOs weisen die Vorwürfe entschieden von sich. „Es wurde immer wieder versucht, uns irgendetwas anzuhängen, doch bis heute wurde nie ein Beweis geliefert“, sagte der Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer. Der Transponder würde nicht gezielt abgestellt.

    Hilfsorganisationen dementieren die Vorwürfe

    Auch sei es Pflicht, nachts mit eingeschalteten Suchscheinwerfern zu fahren, um Kollisionen zu vermeiden. Auch Ärzte ohne Grenzen dementierte die Vorwürfe. „Es gibt nicht den Hauch eines Beweises dafür“, sagte Philipp Frisch, Leiter der politischen Abteilung. „Wir arbeiten nicht mit Lichtsignalen und fahren nur in akuten Notfällen und in Absprache mit den libyschen Behörden in libysche Hoheitsgewässer ein.“

    Weder Helfer noch Regierungen wissen, wie sich die Lage in Libyen entwickelt. „Wir wissen nicht exakt, wie viele potenzielle Migranten sich genau in Libyen aufhalten. Da schwanken die Zahlen. Wir wissen auch nicht genau, wie viele sich zusätzlich nach Libyen aufgemacht haben“, sagte de Maizière. In Europa herrscht Unsicherheit. Und damit wächst die Spannung zwischen den Staaten.