Berlin/Washington. Neue Ära oder Wahlkampf? Die Rede von Merkel über den Partner USA hat auf der ganzen Welt Resonanz in Medien gefunden. Ein Überblick.

Ende einer Ära, neues Kapitel in den amerikanisch-europäischen Beziehungen – oder doch nur deutsches Wahlkampfgetöse oder gar eine Art Hilfeschrei nach einer enttäuschten Liebe? In Europa und in den USA werden die kritischen Äußerungen zu den transatlantischen Beziehungen von Kanzlerin Angela Merkel ganz unterschiedlich gedeutet.

Merkel hatte am Sonntag nach den weitgehend gescheiterten Gipfeln von G7 und Nato in einem Bierzelt in München gesagt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.“

Der Satz hat weltweit zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt. Ein Überblick.

USA

Der frühere US-Botschafter bei der Nato, Ivo Daalder, sagte der „New York Times“: „Dieses scheint das Ende einer Ära zu sein, in der die USA geführt haben und Europa gefolgt ist.“ Die „Washington Post“ schrieb: „Merkel schlägt ein neues Kapitel der US-europäischen Beziehungen auf.“ Die Kolumnistin Anne Applebaum schrieb auf Twitter: „Seit 1945 haben erst die UdSSR und dann Russland versucht, einen Keil zwischen Deutschland und die USA zu treiben. Dank Trump hat Putin es geschafft.“

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    Der demokratische US-Abgeordnete Adam Schiff bedauerte ein Ende der besonderen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland. „Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten das einen großen Erfolg nennt, tut es mir leid“, sagte Schiff.

    Aus dem Lager der Trump-Unterstützer kamen sehr kritische Reaktionen: „Merkel, Heldin der Linken und Katastrophe für Europa, sagt, sie könne sich „nicht auf Trump verlassen". Fantastisch. Er steht ihrer rasenden Dummheit entgegen“, schrieb beispielsweise der konservative Kommentator Bill Mitchell auf Twitter.

    Viele Kommentare in sozialen Netzwerken verwiesen aber auch darauf, dass die Kanzlerin in einem Bierzelt gesprochen habe: Wer aus dieser Rede nun eine Neudefinition des transatlantischen Verhältnisses machen wolle, blase eine Wahlkampfrede unverhältnismäßig auf.

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      Russland

      Für die russische Führung hat Merkels Aussage nach eigener Darstellung zunächst keine Bedeutung. „Das müssen die Europäer und Amerikaner unter sich klären. Die Frage betrifft uns nicht“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Russland sei ein Teil Europas. Aber: „Eigentlich ist es seit Jahrhunderten auf sich selbst gestellt.“

      Frankreich

      „Le Monde“ schreibt, man könne in den Bemerkungen von Merkel eine „absichtliche Dramatisierung“ sehen, denn sie wolle sich von der Bundestagswahl im September als „Pol der Stabilität“ präsentieren. „In Wirklichkeit ist Deutschland tief bestürzt, (denn) es hat immer auf die Angelsachsen (gemeint sind die angelsächsischen Länder) gesetzt, um auf dem alten Kontinent nicht zu allein und nicht zu mächtig zu sein.“ Die US-Amerikaner hätten Frieden und Sicherheit gewährleistet, die Briten den Freihandel.

      Italien

      Die Zeitung „Corriere della Sera“ schreibt, Merkel habe mit ihrer Aussage einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Sie habe sich vom „Atlantismus“ distanziert, „für den Deutschland in der ganzen Nachkriegszeit stand“. So habe sich die Kanzlerin noch nie ausgedrückt. „Merkel greift an, ein Jahreszeitenwechsel von großer Tragweite.“

      „La Stampa“ schreibt: „Die historische transatlantische Allianz wackelt. (...) Die deutsche Bundeskanzlerin erklärt die Zeiten, in denen die Europäer auf die USA bauen konnten, für beendet, der Westen war noch nie so gespalten.“

      Spanien

      „El País“ kommentiert: „Die Europäische Union ist nicht mehr das, was sie vor dem Brexit war, und die transatlantische Allianz ist nur noch ein Schatten von dem, was sie in der Prä-Trump-Ära war.“

      Österreich

      Die „Kleine Zeitung“ schreibt: „Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist für abwägende Worte bekannt. Harsche Kritik – zumal an wichtigen Partnern – ist ihre Sache nicht. (...) Dennoch drückt sie klar aus, dass Trump offensichtlich eine Schmerzgrenze in der Tolerierbarkeit erreicht hat. Und das nach 130 Tagen im Amt.“

      Schweiz

      Der „Tagesanzeiger“ überschreibt einen Kommentar: Kein verlässlicher Partner mehr, darunter: „Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel setzt kein Vertrauen mehr in die transatlantischen Beziehungen.“

      Norwegen

      Die Kanzlerin bei der Truderinger Festwoche in München.
      Die Kanzlerin bei der Truderinger Festwoche in München. © REUTERS | MICHAELA REHLE

      Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg sagte dem norwegischen Fernsehen NRK in Bergen: „Wir können die Unterstützung anderer nie für selbstverständlich nehmen, aber ich finde, es ist allzu früh, die Nato und die Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg abzuschreiben. Wir sind voneinander abhängig, und ich glaube, die Amerikaner werden das bald deutlich machen. Auch wenn sie meinen, dass wir mehr für die Vereidigung bezahlen sollen. Es ist nicht das erste Mal, dass das geschieht, auch frühere Präsidenten haben das gefordert.“

      Rumänien

      Kate Hansen Bundt, die Generalsekretärin des Atlanterhavskomités, einer außen- und sicherheitspolitischen Organisation, sieht Merkels Worte im Norwegischen Rundfunk (NRK) als Teil des Wahlkampfes. Sie seien auch eine Reaktion darauf, dass Trump kein Wort über die transatlantische Solidarität verloren habe. „Deutschland mit seiner Geschichte braucht starke internationale Organisationen. Die Furcht, dass die alten Bande wie Nato und EU zersplittern, ist in Berlin sehr groß.“

      Die führende liberale Zeitung „Adevarul“ kommentiert: „Wir können in dieser durch ihre Radikalität scheinbar unerwarteten Äußerung (Merkels) nicht den Ausdruck eines Systembruchs sehen, sondern eines Übergangs in eine neue Phase der Evolution, die der deutsch-französische Motor angekündigt hat – nämlich die Schaffung einer neuen Grundlage für das europäische Projekt.“ (dpa)