Berlin. Mitarbeiter des LKA sollen Akten manipuliert haben. Damit sollen sie vertuscht haben, dass der Attentäter von Berlin im Fokus stand.

Zwölf unschuldige Menschen starben, der Attentäter wurde kurze Zeit später auf der Flucht in Italien von Polizisten erschossen. Monatelang hatten Ermittler Anis Amri verfolgt, ihn observiert, seine Kommunikation überwacht – und dennoch konnten die Polizisten nicht genügend Beweise sammeln, um Amri aufgrund mehrerer Delikte hinter Gitter zu bringen.

Das jedenfalls war die Version, die bisher von den Sicherheitsbehörden erzählt wurde.

Doch seit dieser Woche erschüttert eine Nachricht die Aufarbeitung des Berlin-Attentats – und sie wirft beklemmende Fragen auf: Hätte der Anschlag verhindert werden können? Hatten die Ermittler doch genug Beweise für ein Strafverfahren? Und haben Kriminalbeamte nun versucht, diese Beweise im Nachhinein zu vertuschen?

Der Verdacht: Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamts (LKA) manipulierten die Akte Amris bewusst. Aus der Szenegröße Amri, der in Berlin banden- und gewerbsmäßig mit Drogen handelte, wurde in den Polizeiunterlagen offenbar nachträglich der Kleinkriminelle Amri. Diese unterschiedliche Bewertung ist rechtlich wichtig: Den professionellen Drogendealer Amri hätte die Justiz mit Hilfe der Polizeiakten und auf Grundlage der Erkenntnisse etwa aus den Observationen wahrscheinlich anklagen – und so aus dem Verkehr ziehen können. Noch vor dem Anschlag am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.

Gab es Mitwisser in der Polizeibehörde?

An diesem Tag war der in Tunesien geborene und 2015 aus Italien nach Deutschland eingereiste Amri mit einem gestohlenen Lkw in den gut besuchten Weihnachtsmarkt gerast. Bruno Jost, früherer Bundesanwalt und nun Sonderermittler der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung, hatte die Widersprüche in den Akten entdeckt. „Es ist ein unerhörter Verdacht, und ich erwarte von allen Beteiligten im Land Berlin, dass das jetzt sehr gründlich und sehr offen aufgeklärt wird“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann äußerte sich bestürzt. „Dass Fehler durch Urkundenfälschung vertuscht werden sollten, schlägt dem Fass den Boden aus.“ Die Grünen forderten einen Untersuchungsausschuss im Bundestag.

Ermittelt wird aktuell gegen zwei LKA-Kommissare. Sie sollen die Aktenvermerke gefälscht haben. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt gestellt. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, droht den Kommissaren eine Verurteilung wegen Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung. Ihren Beamtenstatus wären sie dann los. Darüber hinaus müssten die Beteiligten im Falle einer Verurteilung mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen. Unklar ist, ob es Mitwisser gibt und die Beamten auf Anweisung handelten. Die Polizeiführung gibt an, sie habe von dem Vorfall auch erst von dem Sonderermittler erfahren.

Polizeipräsident ordnete Verbot an, Akten aus dem Fall zu löschen

Jost fand in den Akten zum Fall Amri einen Sachstandsbericht des polizeilichen Staatsschutzes, Abteilung Islamistischer Terrorismus. Datiert war die Akte auf den 1. November 2016. Dieser Bericht war aber ein anderer als der bislang bekannte. In dem Dokument, das Jost fand, wird Amri vorgeworfen, gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln zu betreiben. Bisher hieß es seitens der Polizei immer, dass Amri nur im kleineren Stil mit Rauschmittel gehandelt hatte. Der Verdacht ist also, dass die Beamten im Nachhinein, als ihnen der folgenschwere Fehler auffiel, versuchten, den Originalbericht verschwinden zu lassen.

Stattdessen erstellten sie am 17. Januar einen neuen, modifizierten Bericht. Brisant: Am selben Tag ordnete Polizeipräsident Klaus Kandt ein Verbot an, Akten aus dem Fall zu löschen. In der neuen Akte schreibt Kommissar L. dann, dass Amri „Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln“ betrieben haben könnte. Dabei könnte es sich um Amphetamine, Kokain sowie Cannabis handeln. Eine eindeutige Zuordnung sei aber schwierig bis unmöglich. Wer diese Einschätzung liest, kommt nicht zu dem Schluss, dass es sich bei Amri um einen schweren Drogenkriminellen handelt.

De Maizière weist Vorwürfe gegen Bund im Fall Amri zurück

weitere Videos

    Warum ging man nicht härter vor?

    Kommissar L. hätte den Originalbericht an die Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseröffnung weiterleiten müssen. Denn dann hätte die Staatsanwaltschaft Haftbefehl beantragen können. Unklar ist die Motivlage für die mutmaßliche Täuschung: Vielleicht wollten die Polizisten vertuschen, dass sie den Terroristen schon im November hätten verhaften können. Unklar bleibt auch, warum die Polizei im Herbst nicht härter gegen Amri vorging.

    Polizeiinterne Dokumente deuten darauf hin, dass die Entscheidung, Amris Observation einzustellen, auch innerhalb der Berliner Polizei umstritten war. Wenige Tage, bevor die Observation beendet wurde, entdeckten Polizisten Amri in Begleitung zweier Salafisten, die damals als gefährlich eingeschätzt wurden. Es war eine erneute Fehleinschätzung – die Folgen fatal.