Brüssel. Die Nato reagiert nervös auf das Abdriften der Türkei. Bringt das Verfassungsreferendum am Sonntag eine Normalisierung der Beziehungen?

Soviel Verunsicherung war nie. Mehr als 150 Offiziere hat die Türkei im Zuge der Säuberung nach dem Militärputsch des vergangenen Juli aus den Nato-Stäben abgezogen. Curtis Scaparotti, Oberbefehlshaber des Bündnisses, beklagt „Qualitätsschwund bei meinem Personal“. International erfahrene, westlich orientierte Mitarbeiter mit Englischkenntnissen werden durch Nachwuchs aus dem anatolischen Hinterland ersetzt. „Und das Schlimmste ist der Damokles-Effekt“, sagt ein Nato-Vertreter: „Die Leute gehen abends ins Bett und wissen nicht, ob sie am Morgen eine E-Mail-Order kriegen, dass sie zurück müssen nach Ankara!“

Die Nordatlantische Allianz ist beunruhigt über den abdriftenden Verbündeten an der Ostflanke, sieht aber kaum Möglichkeiten gegenzusteuern. Diplomaten und Experten berichten von einer Mischung aus Ratlosigkeit, Nervosität und Rest-Hoffnung, der Spuk möge nach dem Verfassungsreferendum am Sonntag vorübergehen und einer Normalisierung Platz machen.

Die Großzügigkeit der Nato hat Tradition

Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan

Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere.
Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere. © dpa | Lefteris Pitarakis
Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen.
Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen. © dpa | Uncredited
Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018.
Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde.
Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance / Eventpress Herrmann
Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte.
Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte. © dpa | Lefteris Pitarakis
Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf.
Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen.
Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul.
Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul. © picture alliance/ASSOCIATED PRESS | AP Content
Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen.
Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen. © REUTERS | REUTERS / Stringer Turkey
2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht.
2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht. © REUTERS | REUTERS / Fatih Saribas
Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus.
Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus. © REUTERS | REUTERS / Kevin Lamarque
Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt.
Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt. © picture-alliance / dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / epa
Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara.
Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. © REUTERS | Umit Bektas
Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten.
Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten. © Getty Images | Sascha Schuermann
2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye.
2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich.
Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“.
Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen. © dpa | Lefteris Pitarakis
Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft.
Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft. © REUTERS | REUTERS / OSMAN ORSAL
2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete.
2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete. © REUTERS | REUTERS / YAGIZ KARAHAN
Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen.
Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. © dpa | Kayhan Ozer
Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“.
Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt.
Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. © REUTERS | Murad Sezer
„Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je.
„Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je. © REUTERS | HANDOUT
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In den Sitzungen der Nato-Gremien steht die Entwicklung in der Türkei nicht auf der Tagesordnung. „Wir haben keine Tradition, mit internen Angelegenheiten umzugehen“, sagt ein Informant aus der Brüsseler Zentrale. „Wir sind auf die Außenwelt ausgerichtet, nicht nach innen.“ Doch auf den Korridoren und in bilateralen Kontakten ist der autoritäre Kurs des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan samt Folgen für das Bündnis ein Thema. „Die Kollegen sind besorgt über die Tonalität dessen, was da aus Ankara kommt“, sagt ein Diplomat. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt sich beunruhigt über die rhetorischen Scharmützel, die sich Erdogan mit Deutschland oder den Niederlanden liefert.

Türkei: Darum ist Erdogans Referendum so umstritten

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    In der westlichen Allianz ist die Türkei alles andere als ein Mitläufer. Mit 380.000 Militärangehörigen stellt sie nach den USA die zweitgrößten Streitkräfte, mit großem Abstand zu den drittplatzierten Franzosen (209.000). Den Nato-Richtwert für Verteidigungsausgaben (zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - BIP) schafft sie nicht ganz, gehört aber mit 1,69 Prozent zu den ausgabenwilligeren Mitgliedstaaten.

    An zahlreichen Nato-Missionen – Afghanistan, Kosovo, Ägäis – sind die Türken beteiligt, ebenso an der Ausbildung irakischer Offiziere und an der Finanzhilfe für den ukrainischen Verteidigungsapparat. Die wesentliche Bedeutung der Türkei liegt indes in ihrer geostrategischen Position. Sie ist der Allianz-Türsteher am Übergang zum Nahen Osten, der brisantesten Kriegs- und Konflikt-Region weltweit. Sie ist Mitspieler – bis vor Kurzem offiziell auch militärisch – im Syrien-Krieg, beteiligt sich am Kampf gegen das Terror-Kalifat „Islamischer Staat“ und stellt Stützpunkte wie die Luftwaffenbasen Incirlik und Diyarbakir oder das Nato-Hauptquartier in Izmir zur Verfügung.

    Nach dem Putsch wurde das Militär weiter umgekrempelt

    Doch in Erdogans Militär – dem einzigen muslimisch geprägten Verband in der Nato – gärt es schon länger. „Der Umbruch – Entlassungen, Versetzungen in den Ruhestand, schnelle Beförderung von Jung-Offizieren – hat vor dem Coup eingesetzt“, sagt Samuel Vesterbye, Türkei-Spezialist der Denkfabrik European Neighbourhood Council (ENC). „Nach dem Putsch wurde das Militär weiter umgekrempelt und geschwächt. Die Auswirkungen beeinträchtigen allerdings stärker die türkische Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, als die der Nato.“

    Als Nato-Verbündeter verzichtet die Erdogan-Türkei auf die Provokationen, die sie sich als EU-Kandidat leistet. Zwar eskalierte im März der Knatsch mit den Niederlanden derart, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beide Seiten zur verbalen Abrüstung aufforderte. Doch die Wutattacken aus Ankara richten sich nicht gegen die Allianz.

    „Die Nato als Organisation wird beim Empörungspotenzial von Herrn Erdogan ausgespart“, sagt ein Diplomat. In den Monaten nach dem Umsturzversuch haben die Türken eher Flexibilität und Rücksicht auf Bündnisinteressen demonstriert. Nach langer Weigerung ließen sie die Einrichtung einer israelischen Mission bei der Nato zu, genehmigten die engere Kooperation mit der EU und ermöglichten eine Verstärkung der Marine-Präsenz im Schwarzen Meer.

    „Militärisch hat die Türkei keine wirkliche Alternative“

    „Ihnen ist wohl klar, dass man nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen kann“, sagt ein Nato-Vertreter. „Deswegen bemühen sie sich, als gute Verbündete zu gelten.“ Diplomaten in der Brüsseler Nato-Zentrale berichten von normalem Auftreten der türkischen Kollegen. „Auf der Arbeitsebene – wenn es um den Irak, Afghanistan oder maritime Zusammenarbeit geht – sind die sprachfähig. Sie holen nur öfter als früher Weisung von der Regierung zu Hause ein.“

    „Militärisch hat die Türkei keine wirkliche Alternative“, erläutert ENC-Experte Vesterbye. So biete die von China und Russland aufgezogene Schanghai-Organisation (SOZ) keinerlei gleichwertiges Gegenstück zur Garantie der kollektiven Verteidigung, wie sie der Nato-Vertrag in seinem Artikel V festlegt. Vesterbye: „Man kann sich kaum ein realistisches militärisches Szenario vorstellen, in dem die Türkei sich entscheidet, aus der Nato auszutreten.“

    Großzügigkeit hat bei der Nato Tradition

    Wie viel Missachtung von Demokratie und Rechtsstaat kann sich die selbst ernannte „Wertegemeinschaft“ Nato bei einem ihrer Mitglieder leisten? Dem Bekenntnis fehlt es an Durchsetzungsinstrumenten. Verstoßung kommt nicht in Frage, da gilt die Maxime, die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen vertritt: Bei allen Problemen habe man die Türken lieber drin als draußen. Auch Stoltenberg hat mit Blick auf Erdogans Verfassungsreferendum die Latte niedrig gehängt: Solange es bei der Abstimmung korrekt zugehe, könne jeder Staat selber entscheiden, ob er seinen Präsidenten mit einer starken Stellung ausstatte.

    Die Großzügigkeit hat Tradition. „Die Nato hat es immer verstanden, den Betrieb aufrechtzuerhalten, auch wenn es in den Mitgliedstaaten drunter und drüber ging“, so ein Bündnis-Offizieller. „Man hat es gern anderen Institutionen wie der EU oder dem Europarat überlassen, sich um Menschenrechte und Demokratie zu kümmern.“ Diese Dickfelligkeit sei heute nicht mehr tragbar. „Seit 1989 ist die Berufung auf gemeinsame Werte Teil unserer DNA geworden. Wir können nicht zulassen, dass das zur Phrase wird. Unsere internationale Legitimität und Handlungsfähigkeit basieren darauf, dass wir tatsächlich eine Wertegemeinschaft sind.“