Berlin. Mujo Kazmi aus Pakistan ist der erste Flüchtling, der ein Buch über seinen Weg schreibt. Was man bisher lesen kann, zeigt: Er kann es.
Es gibt einen Moment, ganz am Anfang der Flucht, da hält Mujo Kazmi seinen Schlepper Yadullah fast für ein Familienmitglied. Vielleicht liegt es daran, dass Yadullah, der erste von vielen Schleppern, eine Verbindung zur Heimat ist. Oder es kam mit der Zeit, die sie miteinander verbracht haben – nächtelang haben sie zusammen im Auto gesessen, gegessen, gestritten, sich vertragen und lange geschwiegen.
Als Yadullah den 16 Jahre alten Jungen rauchen sieht, fragt er: „Rauchst du etwa auch?“ Er klingt dabei für Mujo fast wie ein älterer Bruder oder ein Onkel. Nur Minuten später wird Mujo Kazmi allein sein. „Auf Wiedersehen und alles Gute“, ruft Yadullah noch, dann ist er weg. Mujo erinnert sich klar an diesen Moment. „Ganz ehrlich? Ich vermisste ihn“, schreibt er im Rückblick. „Vielleicht kann nur ich das verstehen. Hatte ich mich schon so verändert?“
Flüchtlinge wurden oft interviewt
Es sind diese Szenen, die das Buch, Mujos Buch, zu etwas Besonderem werden lassen. Zum ersten Mal können Leser hineinschauen in den Kopf eines dieser minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die vor rund zwei Jahren zu Tausenden in Deutschland ankamen. Bisher wurden die Flüchtlinge nur interviewt, oft umständlich mit Übersetzer, oder Reporter von Magazinen begleiten sie für einige Tage. Sogar Snapchat-Video-Reportagen von der Flucht sind entstanden.
Doch eine detaillierte Schilderung dieser gefährlichen Reise in Autos, Zügen und Schlauchbooten, aus der Sicht von einem, der sie erlebt hat – das gab es bisher noch nicht. Mujo Kazmi will das ändern.
Er will von seiner Reise erzählen
Er ist inzwischen 18 Jahre alt und man kann sagen: Er ist angekommen in Deutschland. Er spricht leise und höflich, das blaue Hemd ist gebügelt, die Frisur leicht strubbelig wie sie gerade viele tragen. Er sagt: „Wenn etwas Wichtiges passiert, dann sollten es die Leute erfahren.“ Deshalb will er von seiner Reise erzählen – und von der Ankunft hier.
„Ich möchte, dass die Leute verstehen, warum wir hier sind, so weit weg von zu Hause.“ Er will zeigen, wie es ist, Freunde zu finden und aus den Augen zu verlieren, auf dem Weg und in der neuen Heimat. Auch, wie es ist, die Familie zurückzulassen – unfreiwillig in seinem Fall. „Ohne darauf vorbereitet zu sein, musste ich von einem Tag auf den nächsten jede Entscheidung für mich selbst treffen, ich konnte noch nicht einmal den Zeitpunkt der Reise selbst bestimmen.“
Der Vater schickt ihn unangekündigt weg
Denn das ist die weitere Besonderheit in seinem Fall, und Mujo Kazmi beschreibt sie in seinem Buch gleich im ersten Kapitel. Es beginnt in Parachinar, einem Teil von Pakistan, der auch „Klein-London“ genannt wird. Viele Schiiten wohnen dort, und werden vom Staat und den Taliban schikaniert und terrorisiert. Immer wieder kommt es zu Explosionen, Klassenkameraden sterben, die Leiche eines Lehrers liegt tagelang auf dem Schulhof.
Als der Vater zu Mujo eines Tages sagt, er solle bei einem Bekannten ins Auto steigen, denkt der Junge sich nichts dabei. Sie werden etwas abholen an der Grenze zu Afghanistan. Es stinkt im Auto, ein Lufterfrischer baumelt am Rückspiegel, der Mann, zu dem er ins Auto steigt, lächelte ihm ermutigend zu. Es ist Yadullah. „Ich mochte ihn irgendwie“, schreibt er. Er wolle noch sein Mobiltelefon holen und seine neuen Schuhe. Doch der Vater sagte: „Die brauchst Du nicht.“ Mujo schreibt: „Es war das Letzte, was mein Vater zu mir sagte.“ Lange wissen nur die Schlepper, wo die Reise hingehen soll. Mujo selbst erfährt erst an der Grenze zum Iran, dass sein Ziel Europa ist.
Er verzieh seinem Vater erst nach Monaten
Es hat lange gedauert, sagt er Monate später in Berlin, bis er seinem Vater verziehen hat. „Ich hatte ja trotz allem eine schöne Kindheit“, sagt er, „ich hatte Freunde und meine Familie um mich.“ Dass ihn sein Vater nicht einmal in die Pläne eingeweiht hat und ihn ins Ungewisse schickte, tat weh. „Ich wusste noch nicht einmal, wohin es gehen sollte.“ Selbst das Wort Flüchtling hat er zum ersten Mal in Österreich gehört, in einem Camp. „Ich musste das Wort erst einmal googeln, erst dann wusste ich, wie die Leute uns nennen.“
Das Kapitel über Österreich ist noch nicht geschrieben. Mujo Kazmi hat nach dem vierten Kapitel erst einmal aufgehört. Er sucht jetzt einen Lektor. Um den zu bezahlen, hat er eine Crowd-funding-Kampagne gestartet auf „Startnext“. Rund zwei Drittel der Summe von 5000 Euro hat er bisher zusammen, er hat noch acht Tage. Der Arbeitstitel des Buches ist „Über alle Grenzen in eine neue Heimat“, das klingt noch roh, etwas ungelenk, wie auch Teile seines Textes noch roh sind. Doch genau dieser Zugang fehlte bisher zu der Welt von Flüchtlingen: Wie in einem Film folgt der Leser dem jungen Mann auf der Strecke zwischen Pakistan und Berlin. Er beschreibt, was er isst, was er riecht, was er fühlt.
So sehen die Flüchtlingsrouten heute aus
Der jüngere Bruder überlebt nur knapp ein Attentat
Instinktiv und geschickt wechselt Mujo in seiner Beschreibung der Reise immer wieder in Rückblenden und erzählt, wie die Taliban den Alltag in Klein-London bestimmen, wie sein Vater seine Mutter aus Liebe heiratete, wie sein jüngerer Bruder beinahe bei einem Selbstmordattentat stirbt. „Der Krieg war wie das Wetter“, schreibt er im Buch, „es konnte jederzeit umschlagen und niemand war davor sicher.“ Als er im dritten Kapitel im Iran aufgefordert wird, seine traditionelle Kleidung in T-Shirt und Jeans umzutauschen, fühlt er sich, „als würde ich eine Haut abstreifen und sie wegwerfen.“ Mit jedem dieser Schritte wird Mujo Kazmi auch erwachsener.
Das Schreiben habe sich während der Reise ergeben, sagt er. „Ich habe in Berlin angefangen, mir Details der Reise zu notieren diese dann in einen Laptop übertragen.“ Im fertigen Buch soll jedes Land ein eigenes Kapitel werden. Das längste will er über Berlin schreiben. „Die 27 Tage Warten vor dem Lageso, die ersten Freunde, die mir halfen und der Moment, als ich die Anerkennung als Flüchtling in den Händen gehalten habe.“
Pakistan gilt als sicheres Herkunftsland
Er ist der einzige aus seiner Gegend, sagt er, der anerkannt wurde. Pakistan gilt als sicheres Herkunftsland, trotz der schwierigen Situation der Schiiten in dem Grenzgebiet, aus dem Mujo Kazmi stammt. Er wird auch von den Steinen erzählen, die einmal an die Wand des Flüchtlingsheims geworfen wurden. Er weiß, dass er nicht nur Freunde hat in Deutschland.
Wenn es gut läuft für Mujo Kazmi, dann wird aus dem Geflohenen eine der Erfolgsgeschichten dieser Zeit, in der Terrorattentate und Fremdenfeindlichkeit die Nachrichten bestimmen. Er will einen Bachelor in Wirtschaft machen.
Sein Lieblingsbuch, sagt er, ist ausgerechnet „Der Kleine Prinz“. Nicht weil die Figur im Buch auch auf Reisen ist, in fremde Welten und Freunde sucht. „Ich mag“, sagt er, „dass es Magie in dem Buch gibt, die auch sonst immer um uns ist, wir müssen sie nur sehen.“