Berlin. Einkommensschwache Deutsche gehen seltener zur Wahl als Wohlhabende. Der Armutsbericht der Regierung warnt vor einer sozialen Kluft.

Bestimmen arme Menschen die Politik in Deutschland weniger als Wohlhabende? Für Sozialministerin Andrea Nahles ist die Antwort klar: „Ihre Meinung wird seltener umgesetzt.“ Es dürfe aber nicht sein, „dass Wählerstimmen je nach Einkommen mehr oder weniger wert sind“. Nach dem Willen der SPD-Ministerin hätte das auch im neuen Armutsbericht der Bundesregierung deutlich betont werden sollen. Doch das Kanzleramt sperrte sich. Jetzt haben sich beide Seiten geeinigt – auf eine abgeschwächte Version.

Der Satz, dass es in Deutschland „eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“ gebe, fehlt nun. Auch der Befund, dass politische Veränderungen wahrscheinlicher sind, wenn sie von einer großen Anzahl von Befragten mit höherem Einkommen unterstützt werden, ist gestrichen.

Aus Protest nicht wählen

Stattdessen wird nur das Wahlverhalten von einkommensschwachen Bürgern beschrieben: „Die politische Beteiligung bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangenen Jahrzehnten stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschicht“, heißt es in dem Bericht.

So habe die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 bei Beziehern von hohen Einkommen bei rund 85 Prozent gelegen – bei Geringverdienern dagegen waren es nur 71 Prozent. Zehn Jahre zuvor sei diese Kluft mit einem Unterschied von drei Prozentpunkten weit geringer gewesen. Für Nahles folgt daraus ein Teufelskreis: Viele arme Deutsche gehen nicht mehr zur Wahl, nehmen damit keinen Einfluss, fühlen sich nicht vertreten und gehen aus Protest beim nächsten Mal erst recht nicht mehr wählen.

Niedrige Arbeitslosenquote

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) beklagt eine „verfestigte Ungleichheit“.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) beklagt eine „verfestigte Ungleichheit“. © dpa | Soeren Stache

Niedrige Löhne und Demokratiemüdigkeit – für Nahles verstärkt sich beides gegenseitig. Mit Blick auf die wirtschaftliche Gesamtlage klopft sich die Bundesregierung in ihrem 5. Armuts- und Reichtumsbericht auf die Schulter: die Arbeitslosenquote ist niedrig, der Mindestlohn wirkt, sogar die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Aber: „Wir sehen eine verfestigte Ungleichheit“, beklagt Nahles.

Der Bericht beziffert die Spaltung präzise: „Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens besitzen“, heißt es dort. Die Regierung warnt: „Sind die Unterschiede zwischen arm und reich in einer Gesellschaft zu groß und wird erworbener Reichtum als überwiegend leistungslos empfunden, so kann dies die Akzeptanz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verringern.“

Wohlfahrtsverband: Armut breitet sich in Deutschland aus

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    Verteilung von Geld

    Mit Sorge beschreibt der Bericht die Frustration vieler Bürger – in einem Land, in dem Zufriedenheit und Zusammenhalt eng mit der Frage verbunden sind, ob Leistung sich lohnt und ob die Verteilung von Geld, Aufstiegschancen und Absicherung als gerecht empfunden werden: Gerade weniger privilegierte Bürger hätten das Gefühl, nicht ausreichend für ihre Anstrengungen respektiert zu werden.

    Hinzu kommt: Der Durchschnittslohn sei in Deutschland zwar über die Jahre gestiegen, so Nahles, doch würden viele davon überhaupt nicht profitieren: „Die unteren 40 Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 90er-Jahre.“ Allein zwei Millionen Kinder seien zudem armutsgefährdet, weil kein Elternteil erwerbstätig ist oder der Alleinverdiener nur in Teilzeit arbeitet.