Berlin. Etwa 550 Extremisten gelten den Behörden als brandgefährlich. Doch für eine lückenkose Überwachung fehlt der Polizei das Personal.

Manche Sicherheitsleute haben eine einfache Gleichung: „Wir brauchen nicht mehr Polizisten. Wir brauchen weniger Probleme.“ Allein 548 Islamisten sind als Gefährder eingestuft. Der harte Kern, Radikale, denen Polizei und Verfassungsschutz eine schwere Straftat zutrauen – wie Mord oder Terroranschläge. Die Hälfte von ihnen ist ausgereist, nach Syrien oder in die Türkei. 80 von ihnen sitzen in deutschen Gefängnissen. Rund 200 sind auf freiem Fuß – doch stehen sie häufig unter Beobachtung. Und manche Fachleute warnen seit Langem: „Wenn ein Islamist einen Anschlag begeht, werden wir ihn gekannt haben.“

So war es jetzt. Der Berliner Attentäter Anis Amri ist den Behörden mit insgesamt 14 Identitäten bekannt gewesen. Seine Spur führte monatelang durch deutsche Amtsstuben und ein Gefängnis, durch Akten der Ermittler und Terrorexperten. Dennoch verlieren sie Amri sieben Wochen vor dem Attentat aus den Augen – bis der Tunesier auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zuschlägt. Er tötet zwölf Menschen. Amri war in NRW Gefährder, Stufe 5 von 8.

Was macht eine Person zum Gefährder?

Das entscheiden die Staatsschützer in den Landeskriminalämtern. Ruft ein Mann zum Dschihad auf? Lobt er die Gewalt des „Islamischen Staates“? Sucht er im Internet nach Anleitungen zum Bombenbau? Amri soll sich im Oktober 2015 in seiner Asylunterkunft in Nordrhein-Westfalen laut eines Mitbewohners IS-Videos angeschaut haben – so geriet er erstmals in Visier des Staatsschutzes. „Gefährder“ ist kein Rechtsbegriff, es gibt dafür kein Gesetz. Daher ist es auch nicht möglich, einen Menschen zu inhaftieren, nur weil er auf dieser internen Liste steht. Sie soll Ermittlern helfen, unter den Tausenden Extremisten in Deutschland die Gefährlichen herauszufiltern – um ihre Ressourcen darauf zu konzentrieren. Denn hinzu kommen 360 „relevante Personen“ im Umfeld von Gefährdern, die laut Behörden bereit sind, Straftaten vorzubereiten oder dabei zu helfen. Überprüft wird die Gefährder-Liste von der Polizei.

Wie gehen die Behörden mit Gefährdern um?

Das entscheidet der Einzelfall. In manchen Fällen schickt die Polizei erstmal nur eine Streife am Wohnsitz der Person vorbei und prüft, ob er oder sie dort anzutreffen ist. Oft bleiben die Maßnahmen verdeckt. Manchen ausreisewilligen Gefährdern entziehen die Behörden den Pass. Die Polizei kann Extremfälle sogar in Präventivhaft nehmen – je nach Bundesland zwischen einem und 14 Tagen. In einigen Fällen werden Islamisten rund um die Uhr observiert. Dafür sind jeweils rund 30 speziell ausgebildete Polizisten oder Verfassungsschützer nötig – alle Gefährder zu observieren, ist personell nicht möglich.

Also setzen Behördenleiter Prioritäten, oftmals nicht leicht bei etlichen Hinweisen auf Extremisten. Die härtesten Gefährder können abgehört werden. Verfassungsschützern muss dies jedoch die sogenannte G-10-Kommission genehmigen. Dem Abhören sind enge rechtliche Grenzen gesetzt. Und nicht überall ist das gleich. In Bayern und Rheinland-Pfalz können Polizisten mit Richtererlaubnis eine Person abhören, ohne dass ein Ermittlungsverfahren aufgrund von konkreten Hinweisen läuft. In NRW und Berlin etwa ist die Überwachung nicht so leicht möglich, in Schleswig-Holstein nur sehr schwer. Die Polizeigesetze regeln das für jedes Bundesland. Das Dilemma im Alltag der Ermittler: Wann ist ein Hinweis „konkret“ genug?

Warum konnte der Gefährder Amri den Ermittlern entwischen?

Um die Fehler im Fall Amri zu verstehen, muss man wissen, mit welchen Tricks der Islamist arbeitete. Lange waren die Polizisten ganz nah dran. Seit Ende 2015 wurde er überwacht, weil er sich Waffen besorgen wollte, später im Umfeld des Islamisten-Predigers Abu Walaa in Hildesheim auftauchte. Ermittler finden heraus, dass Amri „vorgeblich im Auftrag Allahs töten“ will. Das LKA in NRW will ein Verfahren gegen Amri eröffnen, doch weil dieser seinen Mittelpunkt nun in Berlin hat, geht der Fall an die dortige Justiz. Ein Hin und Her beginnt – und die Behörden laufen Amri nur hinterher. NRW gibt den Gefährder ab.

Die Berliner Staatsanwaltschaft leitet im März 2016 ein Ermittlungsverfahren ein. Der Verdacht: Um an Geld für den Kauf automatischer Waffen zu kommen, soll Amri einen Einbruch planen. Es folgt eine engmaschige Überwachung der Kommunikation und permanente Beobachtung. Doch die Ergebnisse sind ernüchternd. Die Information können die Polizisten nicht erhärten. Fortan ermittelt man in Berlin nur noch wegen Verabredung zu einem Verbrechen.

Und Amri zieht weiter, taucht in Dortmund und Oberhausen auf, beantragt unter Tarnidentitäten Asyl. Auch in NRW beginnt ein Verfahren – wegen Leistungsbetrugs. Berlin gibt Amri als „Gefährder“ auf. Dafür ist nun die Essener Polizei dran. Weil Amris Asylantrag abgelehnt ist, soll er abgeschoben werden. Auch das scheitert, die Papiere aus Tunesien fehlen.

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    Mehrfach ist Amri in all der Zeit Thema im Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum von Bund und Ländern in Berlin. Im Juni 2016 bilanziert man dort: Eine „konkrete“ Gefahr gehe von Amri nicht aus. Auch die monatelange Überwachung habe keine Belege für geplante Anschläge gebracht. Verhielt Amri sich absichtlich unauffällig? Sieben Wochen vor dem Anschlag verlieren die Sicherheitsbehörden Amri aus dem Blick.

    „Trotz einer engmaschigen Beobachtung lagen keiner Behörde Hinweise auf eine konkrete Anschlagsgefahr vor“, bilanzierte NRW-Innenminister Ralf Jäger bei einer Sondersitzung des Innenausschusses in Düsseldorf. Die Sicherheitsinstitutionen seien bei Amri „bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ gegangen, hätten seine Gefährlichkeit jedoch nicht gerichtsverwertbar nachweisen können. Es gebe eben keine „Gesinnungshaft“ für Gefährder. Die Opposition kritisiert: nicht alle Rechtsmittel wie Meldeauflagen wurden im Fall Amri ausgeschöpft. Er reiste durch das Land, niemand wurde seiner habhaft– trotz Terrorplänen, Alias-Namen, Asylbetrug.

    Was muss passieren, um Gefährder besser zu kontrollieren?

    Der Bund der Kriminalbeamten (BDK) fordert: mehr Befugnisse – nicht erst bei Straftätern, schon bei Gefährdern. Etwa schnellere Observation oder Handyüberwachung. Doch oft kommunizieren Extremisten verschlüsselt – über Chats bei WhatsApp oder Telegram. „Polizisten benötigen Rechte, um auf diese Kommunikation zugreifen zu können“, sagt Oliver Huth vom BDK. „Hier müssen die EU-Staaten Unternehmen wie Facebook dazu verpflichten, besser mit der Polizei zusammenzuarbeiten.“

    Vor allem Union und SPD fordern, dass die Abschiebung von ausländischen Gefährdern schneller funktionieren muss. Die Opposition kritisiert, dass im Fall Amri nicht die Rechtslage zu lasch war – sondern bestehende Gesetze nicht durchgesetzt wurden: etwa bei Abschiebung oder Meldepflicht.