Berlin/Catania. Schlepper setzen marode Boote ein, pferchen viele Menschen hinein – und verdienen Millionen. Doch legale Wege fehlen den Geflüchteten.

Das Geschäft kennt Gewinner und Verlierer. Für den Iraker Sair S. lief es lange prächtig. Einmal reiste er aus Deutschland über die Türkei in seine Heimat, nur um für 12.000 Euro Schmuck zu kaufen. Und S. suchte dort nach schönen Häusern, Immobilien, in die er 220.000 Euro investieren wollte. Denn die Krisen dieser Welt spülten Geld in die Tasche von Sair S. und in die seines Bruders Miqdad.

Über ein Netzwerk an Komplizen schleuste das Brüder-Paar etliche Menschen von der Türkei über Griechenland nach Europa. Mindestens 17 Fälle konnten Ermittler der Bundespolizei nachweisen. „Ich werde dir etwas Leckeres zu Essen anbieten“, sagte einer der Auftraggeber in einem Telefonat zu Sair S. Es war ein Code für: „Ich bringe dir dein Geld.“

Und das kam reichlich.

Geflüchtete wie Enok aus Äthiopien, Dheyaa aus dem Irak und Latif aus Ghana haben überlebt. Sie hatten Glück, wie 180.000 andere vergangenes Jahr. Aber sie erzählen von den Verlierern dieses Geschäfts. Von den Toten. Enok ist 17 Jahre alt, sitzt auf einer Bank an der Promenade der italienischen Küstenstadt Pozzallo auf Sizilien. Mehr als 5000 starben 2016 auf der Flucht, so viele wie noch nie in einem Jahr.

© REUTERS | YANNIS BEHRAKIS

Etliche ertranken, andere wurden auf den überfüllten Booten erdrückt. Manche starben an ihren Verletzungen. Die Haut verätzt, wenn sich das Salzwasser des Mittelmeeres mit dem Benzin aus dem Motor eines Schlauchboots vermischt und langsam auf Füße, Beine und Genitalien schwappt. Andere fallen im Maschinenraum von alten Fischkuttern ohnmächtig zu Boden, wenn sich die Dämpfe des Treibstoffs im Rumpf eines Schiffs verbreiten. Enok erzählt: „Ein Mann ist irgendwann einfach über Bord ins offene Meer gesprungen, weil er es vor Panik nicht mehr ausgehalten hat.“

Die EU-Polizeibehörde Europol schätzt: 90 Prozent der Flüchtlinge nutzten Schmuggler, um ihr Ziel Europa zu erreichen. Der Umsatz: drei bis sechs Milliarden Euro in 2015. Es gibt zwei Routen: über die Türkei nach Griechenland; und über Libyen nach Italien. Seit dem Abkommen zwischen EU und Türkei und den Grenzschließungen auf dem Balkan fliehen wieder mehr Menschen über die gefährlichere Mittelmeer-Route.

Schmuggler sind die einzige Chance

In Gesprächen mit dieser Redaktion berichteten Beamte von Europol und der Bundespolizei von ihren Ermittlungen, wir sprachen mit Politikern und Helfern, mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der italienischen Küstenwache. Und mit den Geflüchteten selbst. Viele erzählen davon, dass sie ausgebeutet, geschlagen oder für eine Zeit eingesperrt wurden.

Doch sie sagen auch: Schmuggler sind die einzige Chance, ihr Ziel Europa zu erreichen. Legale Wege gibt es kaum.

Mehr als 100 Migranten auf dem Mittelmeer gerettet

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    Dafür bieten Schleuser wie Sair S. ihre Dienste an. Es war der 27. November 2011, als Polizisten um 2.30 Uhr nachts auf der A8 bei Bad Aibling ein weißer Fiat Ducato auffiel. Der Transporter stand auf einem Rastplatz. Der Fahrer war ein 44 Jahre alter Deutscher aus Thüringen. Im Laderaum des Fiats entdeckten Polizisten, unter Kisten, Rollkoffern und einem Sessel, eine Luke. Darin harrten zwei Männer aus. Sie kamen aus dem Irak – und nutzten das Netzwerk von Sair S., um Europa zu erreichen.

    Es ist ein Geschäft mit der Not von Menschen, in dem mittlerweile „Schwerkriminelle versuchen, immer größere Gewinne zu verbuchen“, sagt Michael Rauschenbach, der bei Europol die Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität leitet. Die Preise für die irregulären Überfahrten von Libyen nach Italien steigen deutlich an. Das berichten auch Helfer und Geflüchtete. Kostet eine Flucht aus einem afrikanischen Staat über das Mittelmeer nach Europa Anfang 2015 noch im Durchschnitt 3000 bis 5000 Euro, zahlen Flüchtlinge diese Summen laut Europol mittlerweile manchmal nur für eine Etappe dieser Reise, etwa für die Fahrt über das Mittelmeer.

    Der Migrantenschmuggel ist ein wachsendes Geschäft

    „Wir beobachten, dass Drogenhändler oder Menschenhändler vermehrt auch aktiv werden beim Schmuggel von Flüchtlingen und Migranten“, sagt Rauschenbach. Zunehmend würden Dokumente wie Ausweise oder Asylanträge gefälscht. Kriminelle Milieus überschneiden sich genauso wie die Routen, die sie für ihren Handel nutzen. Die Qualität der Schlauchboote werde schlechter, das Material sei billig. Anders als der Drogenhandel oder das Geschäft mit Prostitution sei der Migrantenschmuggel für Kriminelle „ein stark wachsendes Geschäft“.

    Ab 2014 flohen auch viele Syrer über Libyen nach Europa. Anders als Menschen aus afrikanischen Staaten zahlten sie mehr Geld – und wollten bessere Boote mit weniger Menschen an Bord. Das machte das Geschäft für Kriminelle interessant, die Profite stiegen. Der Schleuser Sair S. nahm für den Weg vom Irak über die Türkei und Griechenland bis nach Deutschland laut Ermittlungen der Bundespolizei zwischen 45.000 und 55.000 Euro von einer sechsköpfigen Familie.

    Als die Polizisten im November den Fiat an der Autobahn anhielten, wurde schnell klar: Hinter dem Transport steckte ein Netzwerk, das bis in den Irak reichte. Dort saß der Bruder von Sair S. und rekrutierte „Kunden“. Komplizen arbeiteten in Griechenland, Italien und im niedersächsischen Cloppenburg. Ermittler entdeckten Hotelrechnungen, Fähr-Tickets und Tankbelege. Eine Analyse der Bundespolizei in München liegt dieser Redaktion vor. Es zeigt den Aufbau der Organisation, Pfeile weisen Chefs, Mittelsmänner, Fahrer und am Ende die geflüchteten Iraker aus. Über den Porträtbildern der Anführer stehen Kopfhörer-Symbole – drei Monate lang hörte die Polizei die Telefone der Gruppe ab.

    Die Soko „Babylon“ ermittelt

    Fünf Beamte ermittelten in der Sonderkommission „Babylon“ zum Fall Sair S., 35 Zeugen wurden vernommen, es ging um 500.000 Euro, die Schleuser mit ihren Fahrten verdienten. „Und das ist nur das, wovon wir wussten“, sagt einer der Ermittler heute.

    Mitarbeiter des italienischen Roten Kreuzes versuchen Flüchtlingen auf ihrer gefährlichen Überfahrt auf dem Mittelmeer zu retten.
    Mitarbeiter des italienischen Roten Kreuzes versuchen Flüchtlingen auf ihrer gefährlichen Überfahrt auf dem Mittelmeer zu retten. © dpa | Italian Red Cross/Yara Nardi/Han

    In der griechischen Küstenstadt Igoumenitsa mietete S. ein mehrstöckiges Haus am Hafen an. Polizisten konnten nachweisen, dass hier immer wieder zwischen fünf und 15 Flüchtlinge ausharren mussten, bis es weiterging. Den Menschen sei Geld und Essen abgenommen worden. „Sie wurden sehr schlecht behandelt“, sagt der Ermittler. Die Kommunikation zwischen den Führungsleuten und den Helfern vor Ort in Griechenland lief häufig konspirativ. „Du bist im Dorf des Hundes“ waren solche Sätze. Das Dorf des Hundes bedeutete Griechenland. „Lass uns heute Abend Spezialitäten essen gehen“, das hieß so viel wie: Heute Abend findet die Geldübergabe statt.

    Der Fall liegt länger zurück, über aktuelle Ermittlungen sprechen Polizisten nicht, da es ihren Erfolg vereiteln könnte. Doch die Polizisten sagen auch, dass der Fall von Sair S. und seinem Bruder zeigt, wie professionell Schleuser vorgehen. Wie häufig sie Druck ausüben. Und wie riskant die Flucht mit Hilfe dieser Banden für die Menschen ist. Im Verfahren gegen S. seien Zeugen bedroht worden, heißt es bei der Polizei. Der Vater einer Familie aus dem Irak sei in den Vernehmungen in Tränen ausgebrochen, weil sein jüngster Sohn Deutschland nie erreicht habe. Zuletzt war er im Haus der Schleuser in Griechenland. Möglicherweise hielten ihn die Schlepper gefangen, um Aussagen der Familie gegen das Netzwerk zu verhindern.

    Milizen nehmen Flüchtlinge gefangen

    Ein Bericht der International Organization for Migration (IOM) zeigt: Die Hälfte der knapp 1800 befragten Flüchtlinge auf der Mittelmeer-Route über Libyen gab an, dass sie während der Flucht gefangen gehalten wurden – von bewaffneten Milizen, islamistischen Gruppen, einzelnen Kriminellen, teilweise aber auch von staatlichen Behörden.

    Die Gefahr für Migranten ist vor allem in Libyen groß, einem zerfallenen Staat, in dem die Regierung über weite Teile des Landes die Kontrolle verloren hat. Auch deshalb wächst das Schleusergeschäft hier. „Das Land ist ein Hotspot für Menschenhandel geworden“, sagt Arezo Malakooti von IOM, die vor Ort über Migration geforscht hat. Kriminelle halten Geflüchtete auf ihrem Weg gen Norden fest, erpressen Lösegeld von den Familien. Menschen werden an Libyer verkauft, die billige Arbeitskräfte für ihre Felder oder Werkstätten suchen. Frauen werden in die Prostitution getrieben. Immer wieder berichten auch Helfer und Sicherheitsleute von vergewaltigten Frauen.

    Syrer meiden Libyen mittlerweile – es ist zu gefährlich geworden. Und auch die Fahrten von dort über das Meer werden riskanter. Die Schlauchboote platzen schnell, Geflüchtete müssen vor jeder Fahrt deshalb ihre Schuhe ausziehen, damit die Schnallen nicht das Gummi zerstören.

    150 Menschen in einem Boot, wo Platz für 30 ist

    Und Schmuggler beladen die Boote mit mehr Menschen. Ruben Neugebauer von der Initiative für zivile Seenotrettung Sea-Watch e.V. erzählt, dass ihre Crew 2015 pro Einsatz zwischen 80 und 120 Menschen aus der Seenot rettete. Heute würden selten unter 120 Personen an Bord der Schlauchboote sitzen, manchmal sogar 150, wo eigentlich nur Platz für 30 ist.

    Längst nicht mehr allen ihren „Kunden“ geben die Schleuser Schwimmwesten – dafür ist kein Platz.
    Längst nicht mehr allen ihren „Kunden“ geben die Schleuser Schwimmwesten – dafür ist kein Platz. © dpa | Ong Sos Mediterranee / Handout

    Die Helfer mussten ihre Strategie ändern: Früher hatten sie Schwimmwesten an alle verteilt, bevor sie die Menschen von den wackeligen Schlauchbooten an Deck ihres Schiffs holten. Dafür ist jetzt manchmal kein Platz mehr. Manche Menschen ersticken oder werden von Bord gedrückt, sobald alle Schwimmwesten tragen würden.

    Kaum ein Flüchtlingsboot schafft es noch bis nach Italien. Die meisten geraten nach wenigen Stunden auf dem Meer bereits in Seenot – oder werden entdeckt. Die Schiffe der Hilfsorganisationen wie von „Sea-Watch“ oder „Ärzte ohne Grenzen“ fahren ihre Einsätze nur wenige Kilometer außerhalb libyscher Hoheitsgewässer. Auch die italienische Küstenwache und Schiffe von Frontex sowie der EU-Mission „Sophia“ retten Flüchtlinge.

    Befeuern die Rettungsmissionen das Schleusergeschäft?

    Sie bringen die Menschen nach Italien. Manche kritisieren, dass die Rettungsmissionen das Geschäft der Schleuser befeuern – eine Art Fährgeschäft. Dagegen spricht: Schon vor den Einsätzen der Retter starben Hunderte Menschen, ertranken, wurden erdrückt. Jetzt werden immerhin etliche von ihnen durch die Schiffe gerettet.

    Helfer wie Ruben Neugebauer fordern im Kampf gegen das Schleppergeschäft die Chance auf eine legale Einreise von Nordafrika nach Europa – etwa durch Asylstellen in den Botschaften der EU-Staaten. Lösungen in einer „globalen Fluchtkrise“ seien nicht „Abschiebungen und Grenzkontrollen, sondern legale Fluchtwege nach Europa“, sagt Neugebauer. „Kein Krimineller profitiert mehr, wenn Menschen nicht mehr auf den illegalen Grenzübertritt angewiesen sind.“ Als 2015 die Balkanroute offen gewesen sei, sei das Schleusergeschäft dort innerhalb von Tagen kollabiert.

    Regierung setzt auf Abkommen mit afrikanischen Staaten

    Der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Ole Schröder (CDU).
    Der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Ole Schröder (CDU). © imago/ZUMA Press | imago stock&people

    Das Bundesinnenministerium (BMI) setzt dagegen auf Abkommen zwischen EU und den Maghrebstaaten wie mit der Türkei. Um das „hochgefährliche Handwerk der Schlepper“ zu beenden, „müssen wir mit den nordafrikanischen Staaten vergleichbare Abkommen wie mit der Türkei abschließen“, sagt der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Ole Schröder (CDU). „Niemand der mit kriminellen Schleusern nach Europa gekommen ist, darf hier bleiben. Er muss wieder zurück in das Land gebracht werden können, von dem aus er zu seiner gefährlichen Reise über das Mittelmeer aufgebrochen ist.“ Im Gegenzug müsse sich Europa verpflichten, legale Flucht aus diesen Staaten zu ermöglichen. „Von Migrationszentren in Nordafrika aus können Schutzbedürftige dann legal nach Europa ausreisen“, hebt Schröder hervor.

    Dem Netzwerk um die beiden irakischen Brüder konnten Ermittler der Bundespolizei zumindest einen Teil ihrer illegalen Schleusungen nachweisen. Die Bandenmitglieder wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch der EU wird langsam klar: Vor allem wenn weniger Menschen aus Krieg und Armut nach Europa fliehen müssen, leidet das Geschäft der Schleuser. Der Polizeieinsatz gegen die Netzwerke dagegen ist mühsam. Denn selten landen die Beamten einen Fahndungserfolg. Zwar ermittelte Europol in Kooperation mit anderen Behörden allein 2016 rund 15.000 Tatverdächtige. Doch in wenigen Fällen sind es Drahtzieher der Banden, und selten kommt es zu Urteilen. In den meisten Booten aus Libyen und der Türkei sitzen die Schleuser gar nicht mit an Bord – steuern müssen die Flüchtlinge selbst.