Der Terrorismusexperte Peter Neumann fordert von Politik und Sicherheitsbehörden Konsequenzen. Aber er warnt auch vor Aktionismus.

Peter Neumann arbeitet am King’s College in London und gilt als einer der bedeutendsten Terrorismusexperten Europas. Er forscht seit Jahren zum Thema Radikalisierung. Unsere Redaktion sprach mit ihm über den Anschlag vom Breitscheidplatz.

Herr Professor Neumann, Sie arbeiten in London, kommen aber aus Deutschland und sind zurzeit in Berlin. Wo fühlen Sie sich am sichersten?

Peter Neumann: Ich fühle mich an all diesen Orten noch sehr sicher. Tatsächlich sind terroristische Anschläge ja doch sehr selten und es können jeden Tag ganz viele andere furchtbare Dinge passieren. Man sollte sich daran erinnern, sich in diesem Zusammenhang vor Augen zu führen, dass es ja gerade der Zweck des Terrorismus ist, Angst zu verbreiten.

Glauben Sie anhand der vorliegenden Informationen, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelt?

Neumann: Hundertprozentig sicher kann man sich nicht sein. Die Art und Weise des Vorfalls erinnert aber doch stark an den Terroranschlag von Nizza, bei dem ebenfalls ein Lkw in eine Menschenmenge gerast ist, und wir wissen aus der Propaganda, dass der „Islamische Staat“ (IS) genau solche Anschläge promotet. Es gab auch schon islamistische Anschläge auf Weihnachtsmärkte. Ich wäre von daher nicht überrascht, wenn es sich als islamistischer Anschlag herausstellen wird.

Trauer um Opfer des Anschlags von Berlin

Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder.
Nur wenige Stunden nach dem Anschlag: Nahe des Weihnachtsmarkts an der Berliner Gedächtniskirche, in den ein Lkw gerast war und dabei mehrere Menschen tötete, legten Trauernde erste Blumen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel.
Der Morgen danach in der Nähe des Tatorts: „Ich bin Berlin – für mehr Menschlichkeit & Mitgefühl“, steht auf dem Zettel. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche.
Viele Menschen bekundeten ihre Trauer auf dem Platz vor der Gedächtniskirche. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend.
Auch Schilder an den Straßen nahe der Gedächtniskirche erinnerten am Dienstag an den Anschlag vom Vorabend. © dpa | Michael Kappeler
Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt.
Diese Frau betet für die Opfer der Todesfahrt. Zwölf Menschen waren am Montagabend ums Leben gekommen, viele weitere wurden schwer verletzt. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
„Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt.
„Das Licht ist stärker als die Dunkelheit“, steht auf dem Plakat, das dieser Passant in der Nähe des Anschlagsorts befestigt. © dpa | Rainer Jensen
An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder.
An allen Ecken der Schutzplane, die um den Anschlagsort aufgespannt wurde, legten die Menschen Blumen und Kerzen nieder. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
„In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat.
„In uns lebt ihr weiter“, steht auf einem Zettel, den jemand nahe des Anschlagsorts zusammen mit Kerzen niedergelegt hat. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer.
Ein Moment des Innehaltens mitten in der Rush Hour. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Gedächtniskirche und gedenken der Opfer. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an.
Die brandenburgische Fahne weht in Potsdam auf Halbmast Für den Dienstag ordnete Innenminister Thomas de Maizière für das gesamte Land Trauerbeflaggung an. © dpa | Ralf Hirschberger
In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an.
In der Gedächtniskirche zünden Menschen Kerzen des Gedenkens an. © REUTERS | PAWEL KOPCZYNSKI
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller trägt sich in der Gedächtniskirche in Berlin in das Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlags ein. © dpa | Maurizio Gambarini
Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast.
Auch die Fahnen vor dem Reichstag wehen am Tag nach dem Anschlag auf Halbmast. © dpa | Paul Zinken
Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen.
Den ganzen Tag über suchten Menschen den Weg zur Gedächtniskirche, um Blumen und Kerzen niederzulegen. © Getty Images | Michele Tantussi
Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“.
Eine der vielen Botschaften, die auf Zetteln und Plakaten am Anschlagsort zu lesen sind: „Kriege führen zu mehr Terrorismus – Terrorismus verletzt ausnahmslos alle Menschen“. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast.
Europa sendet ein Zeichen der Solidarität: Die Fahnen vor dem Gebäude der EU-Kommission hängen auf Halbmast. © dpa | Olivier Hoslet
Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin:  „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck.
Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich am Dienstagnachmittag im Schloss Bellevue zum Anschlag in Berlin: „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte Gauck. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages.
Eine Blume steht im Foyer des brandenburgischen Landtages neben dem Kondolenzbuch für die Opfer des Anschlages. © dpa | Ralf Hirschberger
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte zusammen mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) am Dienstagnachmittag den Anschlagsort. © dpa | Michael Kappeler
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in stillem Gedenken an die Opfer. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt.
Die Kanzlerin zeigt sich beim Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche am Dienstagnachmittag sichtlich bewegt. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“.
Der Anschlag hat laut diesem Plakat an der Gedächtniskirche „Das Herz Berlins getroffen“. © dpa | Michael Kappeler
Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin.
Das französische Parlament hielt am Nachmittag eine Schweigeminute ab in Gedenken an die Opfer aus Berlin. © dpa | Christophe Petit Tesson
Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts.
Trauernde am Dienstagabend in der Nähe des Anschlagsorts. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war.
Hunderte Kerzen hatten sich an der Gedächtniskirche angesammelt, als die Sonne am Dienstag untergegangen war. © Getty Images | Michele Tantussi
Das  Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold.
Das Brandenburger Tor erstrahlte am Dienstagabend in Schwarz-Rot-Gold. © Reto Klar
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Inwiefern muss die Politik jetzt reagieren und Konsequenzen ziehen?

Neumann: Die Politik muss reagieren, sie darf aber nicht überreagieren, sondern muss besonnen bleiben. Was wir brauchen, ist ein umfassendes Anti-Terrorismus-Konzept, denn die Bedrohung wird uns noch viele Jahre begleiten. Alle relevanten Bereiche müssen untersucht werden. Haben wir die richtige Technologie? Arbeiten die Behörden gut zusammen? Machen wir eine gute Präventionsarbeit? Ein solches Gesamtkonzept ist wichtiger als wilde Forderungen, wie sie üblicherweise nach jedem Anschlag erhoben werden. Weder ein Burka-Verbot noch eine Technik zur Gesichtserkennung hätten den Vorfall vom Breitscheidplatz verhindern können.

http://Debatten_um_politische_Folgerungen_nach_dem_Anschlag_von_Berlin{esc#209044803}[video]

Der „Islamische Staat“ muss in Syrien und im Irak militärische Rückschläge einstecken. Ist die Bedrohung bald vorüber?

Neumann: Die Bedrohung für Europa könnte kurzfristig sogar noch steigen, weil der IS auf die Rückschläge in seinem Kerngebiet so reagiert, dass er im Sinne einer asymmetrischen Kriegsführung nun auf Anschläge in Europa setzt. Mittel- und langfristig ist es aber natürlich gut, wenn der IS besiegt wird. Denn sein Herrschaftsraum war Operations- und Rückzugsgebiet.

Von welcher Gruppe von Terroristen geht zurzeit die größte Gefahr aus?

Neumann: Es gibt drei Stränge. Erstens haben wir die nach Syrien und Irak ausgereisten Auslandskämpfer, die jetzt nach und nach zurückkommen. Dann gibt es die Unterstützer, die sogenannten einsamen Wölfe, die nicht zur Organisation gehören, aber in ihrem Sinne handeln. Und drittens mobilisiert der IS eben auch Flüchtlinge. Diese Gruppe ist am schwersten zu durchschauen, weil wir am wenigsten über sie wissen.

Welche Möglichkeiten haben die Nachrichtendienste, Taten wie die vom Breitscheidplatz zu verhindern?

Neumann: Die Dienste sind darauf angewiesen, dass Terroristen miteinander kommunizieren. Die Deutschen sind hier allerdings nach wie vor sehr auf die Amerikaner angewiesen. Und auch die Amerikaner haben es immer schwerer, weil die Botschaften in den Messenger-Diensten immer besser verschlüsselt werden.