Berlin. Deutschland zahlt inzwischen für 188.000 im Ausland lebende Kinder von EU-Ausländern Kindergeld. Die Bundesregierung will nun handeln.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat mit seinem Vorstoß zur Kürzung des Kindergelds für EU-Ausländer eine breite Debatte ausgelöst. Im Interview mit unserer Redaktion hatte Gabriel gefordert, wenn anspruchsberechtigte Kinder gar nicht in Deutschland lebten, sondern in ihrem Heimatland, sollte auch das Kindergeld auf dem Niveau des Heimatlandes gezahlt werden.

Es dürfe „keine Zuwanderung in Sozialsysteme ohne Arbeit“ geben. Das Interview schlägt weiter hohe Wellen – die Bundesregierung bereitet eine Gesetzesänderung vor, die Kommunen unterstützen das, aber Kritiker werfen Gabriel Populismus vor. Die Fakten zur Debatte.

Was ist Anlass für den Vorstoß?

Gabriel wird nach Gesprächen mit Bürgermeistern betroffener Großstädte unter anderem im Ruhrgebiet aktiv: Menschenhändler lockten vor allem Bürger aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland, sagt Gabriel, sie ließen sie in abbruchreifen Häusern wohnen – und kassierten dafür einen Teil des Kindergelds, das die Zuwanderer für ihre Kinder im Heimatland beziehen.

Die Zuwanderer gingen teilweise auch auf den „Arbeitsstrich“, dienten sich jeden Morgen illegal als Tagelöhner an. „Diesen Sumpf müssen wir trockenlegen. Schlepper dürfen nicht weiter die Einwanderung in Sozialsysteme organisieren“, legte Gabriel am Montag nach. „Am Ende kriegen ja nicht die Kinder in Rumänien und Bulgarien das Geld, sondern diejenigen, die hier Schlepperorganisationen bilden und Menschen in solch unwürdigen Zuständen leben und illegal arbeiten lassen.“

Wie ist die Rechtslage?

Wer als EU-Bürger in Deutschland lebt, hat vom ersten Tag an Anspruch auf Kindergeld, auch ohne einer Arbeit nachzugehen. Das Geld steht ihm in voller Höhe auch für Kinder zu, die gar nicht in Deutschland leben, sondern in ihrem Heimatland. Die Regelung geht damit weiter als etwa für den Bezug von Hartz-IV, das erst gezahlt wird, wenn jemand hier auch gearbeitet hat oder seit fünf Jahren im Land lebt.

Wie attraktiv ist unser Kindergeld?

Das Kindergeld ist in Deutschland mit monatlich 190 Euro für das erste und zweite Kind im EU-Vergleich sehr hoch. In Bulgarien etwa beträgt das monatlich Kindergeld pro Kind 19 Euro, in Rumänien je nach Alter 18,50 bis 40 Euro, in Polen 21 bis 30 Euro, in der Slowakei 114 Euro, in Frankreich 120 Euro ab dem zweiten Kind, in Österreich 105 Euro, in Schweden 120 Euro.

Das deutsche Kindergeld ist vor allem für Bürger aus Osteuropa sehr attraktiv, weil dort das Einkommensniveau viel niedriger ist: Mit der Zahlung für zwei Kinder liegt man in Rumänien schon nahe am Durchschnittsverdienst von 440 Euro. Allerdings sind die Leistungen im Detail schwer vergleichbar. In den meisten Ländern ist die Höhe nach Zahl und Alter der Kinder gestaffelt, in einigen einkommensabhängig, mitunter gibt es noch gesonderte Familienbeihilfe.

Um wie viele Kinder geht es?

Für 188.000 nichtdeutsche Kinder, die im EU-Ausland leben, hat der Bund im November 2016 Kindergeld gezahlt, sagt das Bundesfinanzministerium. Die Zahl ist innerhalb eines knappen Jahres um 54 Prozent gestiegen – das lässt die Experten aufhorchen. 91.000 dieser Kinder, also knapp die Hälfte, leben in Polen, 17.000 in Frankreich. Die drittgrößte Gruppe stellt mit 15.000 Kindern Rumänien, in Bulgarien wird für 5600 Kinder deutsches Kindergeld gezahlt. In wie vielen Fällen es dabei um klaren Missbrauch geht, ist unklar – überwiegend dürften die Eltern in Deutschland einer regulären Arbeit nachgehen.

Was kostet das Kindergeld?

Wenn der Bund das volle Kindergeld für alle 188.000 Kinder bezahlen würde, kostete das rund 430 Millionen Euro im Jahr. Aber: Die Summe ist kleiner, weil die Kindergeldzahlungen angerechnet werden, die das Heimatland leistet. Genaue Daten kann das Finanzministerium nicht nennen. Insgesamt gibt der Bund jährlich rund 32 Milliarden Euro für das Kindergeld aus.

Ist eine Kürzung möglich?

Ja. Der Weg ist zwar umstritten – aber nach Gabriels Vorstoß ist die Bundesregierung entschlossen, einen Gesetzesvorstoß zu starten. Im Gespräch ist eine Anpassung des Kindergelds an das Preisniveau in dem jeweiligen Land, eine „Indexierung“. Wenn das Wirtschaftsministerium jetzt europarechtlich grünes Licht gebe, werde das Finanzministerium zügig einen Vorschlag vorlegen, ließ Minister Wolfgang Schäuble (CDU) am Montag mitteilen.

Beide Ressorts schieben sich den schwarzen Peter dafür zu, dass nicht früher gehandelt wurde. Das Finanzressort hatte sich anfangs skeptisch gezeigt, dass die Kürzung europarechtlich möglich sei. Bislang gilt, dass jeder EU-Bürger Anspruch auf die Familienleistungen des EU-Landes hat, in dem er lebt. Eine Öffnungsklausel war auf britisches Betreiben für den Fall geplant, dass Großbritannien nach dem Brexit-Referendum in der EU bleibt – daraus wird nun nichts.

Die EU-Kommission hat vergangene Woche erklärt, sie wolle die Kindergeldregeln nicht ändern. Ob sie das durchhalten kann, ist unklar. Gabriels Fachleute sind sicher, dass Deutschland auch auf eigene Faust handeln kann. Im Zweifel solle die Regierung Mut gegenüber der EU zeigen, meinte Gabriel: „Schäuble soll es versuchen, dann sehen wir, ob er gestoppt wird.“

Wie sind die Reaktionen ?

Die Union unterstützt den Vorstoß Gabriels, auch Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ist dafür. In der SPD gibt es allerdings Widerspruch von den Jusos, Grüne und Linke geben sich ebenfalls empört. Kritiker warnen, die Kindergeldkürzung könne dazu führen, dass Kinder etwa aus Rumänien nach Deutschland nachgeholt würden, was den Staat am Ende teurer kommen würde als heute. Und: Von einer Kürzung wären auch deutsche Eltern betroffen, deren Kinder etwa in Ungarn studieren.