Berlin. Eine Studie einer Krankenkasse zeigt große regionale Unterschiede bei der Versorgung durch Heime und durch ambulante Pflegedienste.

Pflege ist in Deutschland Familiensache. Die große Mehrzahl der pflegebedürftigen Menschen wird zu Hause versorgt. Bei den meisten alten Menschen sind es die Angehörigen, die sich kümmern, manchmal werden sie auch von ambulanten Pflegediensten unterstützt. Ins Pflegeheim dagegen ziehen nur wenige um. Das hat viele Gründe. Die Kosten spielen eine Rolle, aber auch die familiären Beziehungen. Eine neue Kassen-Studie zeigt jetzt, dass auch der Wohnort darüber entscheidet, ob alte Menschen eher zu Hause gepflegt werden oder im Heim: Flensburg oder Potsdam – die regionalen Unterschiede sind zum Teil überraschend groß.

Pflege ist von der Postleitzahl abhängig – so lautet zugespitzt das Ergebnis des neuen Pflegereports der Barmer GEK, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Besonders deutlich wird der Einfluss regionaler Faktoren, schaut man nur auf die Heimversorgung: Während in Brandenburg gut 22 Prozent der Pflegebedürftigen stationär gepflegt werden, sind es in Schleswig-Holstein mehr als 40 Prozent und damit fast doppelt so viele.

Vergleichsweise große Unterschiede gibt es auch zwischen den Stadtstaaten Berlin und Hamburg: In der Hauptstadt liegt die Heimquote deutlich niedriger als in der Hansestadt. Auch bei den Flächenländern gibt es bemerkenswerte Unterschiede: In Nordrhein-Westfalen gehen weniger Menschen ins Pflegeheim als im bundesdeutschen Durchschnitt, in Niedersachsen ist die Heimquote eher überdurchschnittlich. Deutschlandweit liegt die Quote bei 29 Prozent.

In Berlin wird jeder Zweite nur von Angehörigen gepflegt

Aber woran liegt das? Und vor allem: Passen Angebot und Nachfrage regional zusammen – oder wünschen sich die Menschen eine ganz andere Versorgung als die, die sie nutzen? „Ehrlich gesagt, wir wissen nicht viel darüber“, sagt Heinz Rothgang, Gesundheitswissenschaftler an der Uni Bremen und Autor des Barmer-Pflegereports. Doch es gibt Faktoren, die zumindest einen Teil der Unterschiede erklären. Grundsätzlich gilt: Stationäre Pflege ist durch die hohen Eigenanteile bei den Kosten in der Regel teurer als Pflege durch Angehörige und ambulante Dienste. Die Einkommensstruktur einer Region kann also mit darüber entscheiden, ob sich die Familien einen Heimplatz leisten oder die Pflege selbst schultern.

Umgekehrt sinkt die Bereitschaft, Angehörige stationär betreuen zu lassen, wenn das familiäre Netz tragfähig ist – etwa, weil viele Familienmitglieder in der Umgebung wohnen. Oder, weil die kulturelle Tradition geradezu vorschreibt, alte Menschen zu Hause zu betreuen. „Da spielen auch konfessionelle Gründe eine Rolle“, sagt Rothgang. Was auf den ersten Blick seltsam aussieht, erklärt sich auf diese Weise – zumindest in Teilen: In Berlin, wo nicht nur viele einkommensschwache Familien leben, sondern auch viele Zuwanderer mit traditionellem Familienbild, wird jeder Zweite ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Nur in Hessen ist die Quote noch höher.

In Ostdeutschland sind nach der Wende viele neue Heime entstanden

Aber heißt das nun im Umkehrschluss, dass in Schleswig-Holstein vor allem Gutverdiener mit schwachen familiären Netzen leben? Sicher nicht. Hier spielen noch andere Faktoren eine Rolle. Das Angebot an Pflegeheimen ist im Norden vergleichsweise groß – die Heimbetreiber hätten Platz für jeden zweiten Pflegebedürftigen. Und dieses Angebot, so glaubt Rothgang, ist es, das wiederum zu einer großen Nutzung geführt hat. Denn: Wo das Angebot groß, die Nachfrage aber nicht gleich groß ist, müssen die Heimbetreiber besonders auf Preis und Qualität setzen – was wiederum den Betroffenen zugutekommt.

In Ostdeutschland dagegen seien zwar nach der Wende etliche neue Pflegeheime entstanden, und sie seien auch nahezu allesamt ausgelastet, doch es könnte hier noch viel mehr Plätze geben. In vielen ostdeutschen Regionen aber haben die Betreiber besonders große Probleme, Fachkräfte zu finden. In Ostdeutschland hat sich stattdessen der Markt der ambulanten Dienste stark entwickelt und liegt in den fünf neuen Ländern über dem Bundesdurchschnitt.

„Die Menschen bekommen offenbar nicht immer die Pflege, die sie brauchen, sondern die, die vor Ort verfügbar ist“, kritisiert Barmer-Vorstandschef Christoph Straub. Die Beratung müsse besser werden, das vor acht Jahren eingeführte Konzept der regionalen Pflegestützpunkte sei gescheitert. Der Kassenchef forderte Länder und Kommunen auf, gemeinsam mit den Pflegekassen regelmäßig die konkreten Pflegebedarfe in den Regionen zu analysieren und passgenaue Angebote zu erarbeiten. Diese müssten dann Pflegebedürftige und deren Familien unbürokratisch abrufen können.

Experte: Pflegereform wird Heimbewohner enttäuschen

Mit Blick auf die Pflegereform, die ab Januar 2017 vor allem Demenzkranke besserstellen soll, warnt Pflegeexperte Rothgang vor Zusatzausgaben von 7,2 Milliarden Euro. Die Reform werde damit deutlich teurer als von der Bundesregierung vorhergesagt. Die geplanten Beitragsanhebungen reichten zur Finanzierung voraussichtlich nicht aus. Im Zuge der Reform wird das heutige Stufenmodell durch ein Modell mit fünf Pflegegraden abgelöst. Pflegebedürftige, die zu Hause versorgt werden, können mit mehr Geld und Leistungen rechnen. Für Heimbewohner dagegen werde es zwar eine erkennbare Entlastung bei den Eigenanteilen geben, so Rothgang, aber keine Verbesserung der Pflegequalität, da die Heimbetreiber kei­ne neuen Spielräume für mehr Personal bekämen: „Im Heim ändert sich wenig.“