Paris. Weniger Freiheit, weniger Toleranz und ein Minus an Leichtigkeit: Das Leben ist nach den Anschlägen in Frankreich anders geworden.

Der Bauzaun, der vor der Nummer 50 des Boulevard Voltaire den Blick auf das Erdgeschoss des Musiktheaters Bataclan verstellte, ist vor kurzem entfernt und durch ein halbhohes Absperrgitter ersetzt worden. Nagelneu wirkt die frisch gestrichene Fassade, allein die leicht verblasste, ursprünglich knallgelbe Marquise über den Eingangstüren wurde nicht ersetzt.

Die Spuren des Anschlags im Bataclan sind verschwunden.
Die Spuren des Anschlags im Bataclan sind verschwunden. © imago/PanoramiC | imago stock&people

Es nieselt und es ist kalt. Trotzdem bleiben immer wieder Passanten vor dem Bataclan stehen, die meisten sind Touristen. „Hier war das?“, fragt ein kleiner Junge seine Mutter auf Englisch. Die Frau nickt, deutet auf den Bürgersteig, wo ein halbes Dutzend Teelichter in der Nässe gegen das Erlöschen kämpfen, und beugt sich vor, um eine Postkarte zu lesen, die zusammen mit einem Strauß weißer Rosen zwischen den Stäben der Absperrung steckt. „Meine Gedanken sind bei denen, die hier aus dem Leben gerissen wurden – Yolande, Amsterdam“, steht da in holprigem Französisch.

90 Tote, mehr als 350 Verletzte

Das Entsetzen über die Blutspur, die islamistische Attentäter am Abend des 13. Novembers 2015 mitten durch die Seinemetropole zogen, ist weltweit unvergessen. Von den drei Killerkommandos, die beinahe zeitgleich vor dem Stade de France in der Pariser Vorstadt Saint-Denis und im Herzen der französischen Hauptstadt zuschlugen, drang eines in das Bataclan ein, wo 1500 Fans ein Konzert der amerikanischen Rockband „Eagles of Death Metal“ hörten.

Vier mit Kalaschnikows bewaffnete Terroristen stürmten die Bühne und eröffneten das Feuer auf die Zuschauer. 90 Menschen starben, mehr als 350 wurden verletzt, viele von ihnen sehr schwer.

Sting singt zur Wiedereröffnung

Am Samstag, dem Abend vor dem ersten Jahrestag, werden auch die Absperrgitter verschwinden. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Verwüstung wagt die für eine Millionensumme komplett renovierte Konzerthalle den Neuanfang mit einem innerhalb von 60 Minuten ausverkauften Benefizkonzerts des britischen Rockstars Sting.

Doch dass die Wiedereröffnung des Bataclan nicht für eine Rückkehr zur Normalität steht, unterstreichen schon allein vier Soldaten mit schusssicheren Westen und Schnellfeuergewehren vor der Brust, die den Boulevard Voltaire hinab patrouillieren.

Massive Präsenz der Sicherheitskräften

Seit einem Jahr bereits steht Frankreich unter Ausnahmezustand. Schwerbewaffnete Ordnungshüter und Soldaten, die landesweit öffentliche Plätze und Einrichtungen, Bahnhöfe, Flughäfen und Touristenmeilen bewachen, gehören mittlerweile zum Straßenbild.

Selbstverständlich dient die massive Präsenz der Sicherheitskräfte nicht zuletzt dem Ziel, die Bevölkerung zu beruhigen. Ebenso wie die Gepäckkontrollen an den Eingängen von Ämtern, Großkaufhäusern oder Konzertsälen. Doch gleichzeitig stoßen diese Sicherheitsmaßnahmen die Menschen jeden Tag aufs Neue mit der Nase auf die weiterhin bestehende Attentatsgefahr.

Tourismusbranche mit Einbußen

Die Anteilnahme in Frankreich war nach den Anschlägen enorm. Wie hier, auf dem Place de la République in Paris, legten Tausende Fotos, Nachrichten und Kerzen nieder.
Die Anteilnahme in Frankreich war nach den Anschlägen enorm. Wie hier, auf dem Place de la République in Paris, legten Tausende Fotos, Nachrichten und Kerzen nieder. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Ian Langsdon

Das Gefühl, mit einer ebenso diffusen wie unfassbaren Gefahr zu leben, hat sich wie ein Schleier über das Land gelegt. „Je länger dieses Situation dauert, umso tiefer gräbt sich ins Bewusstsein, dass jederzeit wieder etwas passieren kann“, stellt die Psychologin Sandrine Conrads fest. „Jederzeit und überall“, fügt sie hinzu, „sei es auf der Terrasse eines Cafés, auf der Strandpromenade oder in einer Kirche in der tiefsten Provinz.“ Um das in den Hintergrund zu drängen, bedürfe es eines dicken Fells, urteilt Conrads, die vor lauter Arbeit kaum weiß, „wo mir der Kopf steht. Denn die Dünnhäutigeren sitzen in meinem Wartezimmer.“

Charles d’Alencourt hingegen käme ganz bestimmt nicht auf die Idee, eine Psychologin zu konsultieren. „Angst? Ich? Nein, die überlasse ich den Touristen“, spottet der junge Rechtsanwalt am Telefon. Tatsächlich jammert in Frankreich allein die Tourismusbranche laut über die Terrorgefahr, die ihr im ersten Halbjahr trotz der Fußball-EM einem Einbruch von mehr als sieben Prozent bescherte.

Attentäter schossen wild um sich

Die überwiegende Mehrheit der Franzosen hingegen hält es wie d’Alencourt, der der Bedrohungslage die Statistik entgegenhält. Das Risiko, persönlich Opfer eines Terrorakts zu werden, sei verschwindend gering, erklärt der Anwalt nüchtern.

Die Studentenkneipe „Le Carillon“ unweit des Kanals Saint-Martin liegt keine 1500 Meter vom Bataclan entfernt an einer Straßenkreuzung. Auf ihr stoppte am 13. November 2015 das Fahrzeug des zweiten Killerkommandos, dem zwei wild um sich schießende Angreifer entstiegen. 15 Menschen töteten sie, die auf der Terrasse des Carillons und gegenüber vor dem asiatischen Restaurant „Le Petit Cambodge“ saßen. Dann fuhren sie weiter, um kurz darauf auch auf den Terrassen der Cafés „À la Bonne Bière“ und „Belle Époque“ Schrecken und Tod zu säen, während sich gleichzeitig einer ihrer Komplizen in der Bar „Comptoir Voltaire“ in die Luft jagte.

Einschusslöcher in der Theke

Das Leben in der Bar Caillon geht inzwischen normal weiter.
Das Leben in der Bar Caillon geht inzwischen normal weiter. © REUTERS | CHARLES PLATIAU

Diesmal stehen nur fünf unentwegte Raucher draußen vor dem Carillon und die Terrasse des Petit Cambodge ist menschenleer. Doch das scheint allein dem schlechten Wetter geschuldet, denn beide Gaststätten sind rappelvoll. „Es kommen weniger Touristen als vorher, aber sonst ist hier schon lange genauso viel los wie vorher“, meint Anne-Sophie, die an dem langen Tresen des Carillon steht. Die junge Frau wohnt um die Ecke, sie ist eine Stammkundin.

Der Barkeeper blockt ab: „Vergiss es, ich spreche nicht über den 13. November!“ Später findet er die Sprache wieder, als er auf zwei helle Stellen im Holz der Theke zeigt: „Richtig, da waren mal Einschusslöcher.“

Geist der Einheit ist verflogen

Sämtliche am 13. November in Paris angegriffenen Bars und Restaurants sind wieder geöffnet und gut besucht. Die Franzosen versuchen, ihr Leben so normal wie möglich fortzuführen. Auszugehen gehört dazu. Trotzdem zerren die seit 22 Monaten nicht mehr abreißenden Angriffe der Islamisten an den Nerven. Das Leben in Frankreich hat viel von seiner lebensfrohen Leichtigkeit verloren. Gerade in Paris ist das zu spüren – und zu hören. Selbst in gut besuchten Szenebars ist der gemeinhin durch angeregten Meinungsaustausch hohe Lautstärkepegel deutlich gesunken.

Ganz fraglos ist zudem der Geist verflogen, der die Franzosen nach dem Attentat auf die Redaktion des Pariser Satiremagazins „Charlie Hebdo“ zu Millionen auf die Straße trieb, um ihre Einigkeit im Angesicht des Terrors zu demonstrieren.

Ruf nach härterem Umgang mit Terroristen

Die konfessionellen Spannungen nehmen zu, wie in diesem Sommer der heftige Streit um den Burkini unterstrich, dessen Tragen in mehreren Badeorten verboten worden war. Am Ende musste das oberste Verwaltungsgericht des Mutterlands der Menschenrechte ein Machtwort sprechen und darauf hinweisen, dass Frauen ganz prinzipiell auch am Strand die Freiheit haben, sich so zu kleiden wie sie wollen.

Freiheit und Toleranz sind nicht mehr das Gebot der Stunde. Mehr als vier Fünftel der Bürger wären laut Umfragen bereit, die Freiheitsrechte noch weiter einzuschränken, um der Terrorabwehr mehr Mittel an die Hand zu geben.

Nirgends waren Proteste zu hören, als das Parlament im Juli, kurz nach dem fürchterlichen Attentat auf der Strandpromenade in Nizza, den Ausnahmezustand bis Januar 2017 verlängerte. Und obwohl die Polizei weidlich von ihrem Sonderrecht gebraucht macht, ohne richterliche Kontrolle Telefone und Handys abzuhören, Computer zu beschlagnahmen, Hausarrest zu verhängen oder Razzien vorzunehmen, wird mit jedem verübten oder vereitelten Anschlag der Ruf nach einem noch härteren Umgang mit Terrorverdächtigen lauter.