Leipzig. Leipzigs Held ist abgetaucht. Nicht, weil er etwas zu verbergen hätte. Sein syrischer Nachbar glaubt, er habe Angst um seine Familie.

Eine Plattenbausiedlung in Leipzig, gepflegte Bürgersteige, Kleinwagen vor der Tür. Junge Frauen mit Leggings, Kinderwagen und gefärbtem Haar. Der Syrer aus der fünften Etage ist für viele ein Held, die Kanzlerin hat ihn gelobt, der Oberbürgermeister von Leipzig hat ihm gedankt. Doch Ali ist heute nicht zu Hause. „Er hat Angst und traut sich deshalb nicht mehr in seine Wohnung“, sagt sein Nachbar Ammar (26). „Wahrscheinlich ist er bei Freunden untergekommen.“

Ammar geht hoch in den fünften Stock. Er klopft an die dünne Holztür. „Ali, mach auf, ich bin es, Ammar“, sagt er. Keine Antwort. Ali bleibt ein Held ohne Gesicht. Ammar sagt, Ali habe keine Angst, dass ihm Dschihadisten die Tür eintreten könnten. Er sorge sich nur um seine Eltern und die Geschwister, die immer noch in der syrischen Stadt Deir as-Saur leben, in einem Gebiet, in dem die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) herrscht.

Sorge um die Lieben in der Heimat

Ammar kommt aus der syrischen Provinz Hama, wo der IS nicht sein Unwesen treibt. Doch auch er hat Angst um seine Lieben daheim. In Syrien herrscht seit fünf Jahren Krieg. Er ist weggelaufen, um dem Dienst an der Front zu entgehen. Deshalb möchte er seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen.

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    Ammar erinnert sich: Am Samstag kommt er am frühen Abend zurück in seine Wohnung im Leipziger Stadtteil Paunsdorf. Vor der Haustür wartete ein Syrer, der zu seinem Nachbarn Ali will. Weil es draußen kalt ist, schlägt Ammar dem Landsmann vor, bei ihm in der Wohnung zu warten, bei einem Glas Tee.

    Unbekannter Gast ist Dschaber Al-Bakr

    Als sein Nachbar Ali schließlich kommt – so etwa gegen 19 Uhr, tritt er gleich ein. Denn Ammar hat seinen Wohnungsschlüssel versehentlich draußen in der Tür stecken lassen. Ali gibt Ammar den Schlüssel. Er kommt in Begleitung eines Freundes. Auch ein Unbekannter ist dabei.

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      Ali sagt, der Unbekannte sei ein Syrer, der gerade erst in Deutschland angekommen sei. Er habe ihn eingeladen bei ihm zu schlafen und werde ihm, um seine Ankunft zu feiern, ein schönes Mahl kochen – mit Lammfleisch, so wie es die syrische Gastfreundschaft gebietet. Er, Ammar, sei herzlich eingeladen, später mit ihnen zu essen.

      Al-Bakr wirkte auf Ammar unauffällig

      Doch Ammar ist erkältet. Er nimmt die Einladung nicht an. Dass der Unbekannte schon länger in Deutschland ist, dass er auf der Flucht vor der Polizei ist und einen Terroranschlag im Auftrag des IS geplant haben soll, ahnt Ammar zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Er wirkte absolut unauffällig, hatte nur einen Rucksack dabei“, sagt er. Auch Ali und sein Begleiter hätten zunächst nicht gewusst, wen sie da vor sich haben, ist sich Ammar sicher.

      Von dem, was in den darauffolgenden Stunden oben in der Wohnung passiert, bemerkt Ammar nichts. Er paukt deutsche Vokabeln. „Ich habe nicht so viel Kontakt zu Syrern hier. Auch bei meinem Nachbarn oben war ich nur ein einziges Mal“, erzählt er. In seiner kleinen Wohnung hängen handgeschriebene Vokabellisten an der Wand, deutsch-arabisch. „Ich habe viereinhalb Jahre Pharmazie in Syrien studiert“, sagt er. „Mein Ziel ist es, hier einen guten Job zu finden.“

      Polizei-Einsatz lässt Ammar aus Schlaf schrecken

      Der Nachbar von oben sei ein anderer Typ. Nett, ja, aber eher ungebildet und mit dicken Muskeln. Der Sprachkurs sei Alis Sache nicht gewesen. Er habe vor allem daran gedacht, wie er seine Frau und die Kinder nachholen könne nach Deutschland.

      In der Nacht zum Sonntag erfolgt der Zugriff durch die Polizei. Ammar schreckt aus dem Schlaf. „Das waren sicher hundert Polizisten, schwer bewaffnet und vermummt“, sagt er.

      Ali droht Vergeltung des IS

      Ammar schaut, während die Polizisten durch das Treppenhaus stampfen, ängstlich aus dem Fenster. Die Erinnerung an den Krieg in Syrien steigt in ihm hoch. Dann sieht er, wie der „Gast“ seines Nachbarn gefesselt in ein Polizeifahrzeug geschoben wird. Auch Ali und ein weiterer Mann seien von der Polizei mitgenommen worden. „Ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht etwas Kriminelles gemacht haben, erst später habe ich erfahren, was wirklich los war.“

      Ammars deutsche Nachbarn sind genervt von den Fernsehteams und den Fotografen, die seit Montag vor dem Haus stehen. Die Journalisten wollen sehen, wo die Polizei den zeitweise meistgesuchten Terrorverdächtigen Deutschlands Dschaber al-Bakr abgeholt hat – professionell gefesselt mit einem Verlängerungskabel von Ali und seinen Freunden.

      Ammar bewundert, was Ali getan hat. „Er ist ein Held, denn wenn die Terroristen seine Identität herausfinden, dann werden sie in Syrien seine ganze Familie massakrieren.“

      Terror-Verdächtiger von Syrern gefasst

      Mit der Festnahme eines mutmaßlichen Terroristen in Leipzig ist offenbar ein größerer Anschlag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Deutschland verhindert worden.
      Mit der Festnahme eines mutmaßlichen Terroristen in Leipzig ist offenbar ein größerer Anschlag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Deutschland verhindert worden. © Getty Images | Carsten Koall
      Der 22-jährige Syrer Dschaber al-Bakr hat nach Angaben von Sachsens Innenminister Markus Ulbig konkrete Pläne verfolgt und Vorbereitungen für einen Sprengstoffanschlag getroffen. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wollte der Verdächtige wohl einen Flughafen in Berlin attackieren.
      Der 22-jährige Syrer Dschaber al-Bakr hat nach Angaben von Sachsens Innenminister Markus Ulbig konkrete Pläne verfolgt und Vorbereitungen für einen Sprengstoffanschlag getroffen. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wollte der Verdächtige wohl einen Flughafen in Berlin attackieren. © Polizei Sachsen/dpa | Christian Zander
      Der 22-Jährige war in der Nacht zu Montag in Leipzig festgenommen worden.
      Der 22-Jährige war in der Nacht zu Montag in Leipzig festgenommen worden. © Getty Images | Carsten Koall
      Zwei Syrer hatten ihn nach eigenen Angaben in einer Wohnung im Nordosten der Stadt überwältigt, gefesselt und der Polizei übergeben.
      Zwei Syrer hatten ihn nach eigenen Angaben in einer Wohnung im Nordosten der Stadt überwältigt, gefesselt und der Polizei übergeben. © Getty Images | Carsten Koall
      Sein Anruf bei der Polizei sei zunächst aufgrund von Verständigungsproblemen erfolglos geblieben. Daraufhin sei er mit einem Foto von Al-Bakr zu einem Polizeirevier gefahren.
      Sein Anruf bei der Polizei sei zunächst aufgrund von Verständigungsproblemen erfolglos geblieben. Daraufhin sei er mit einem Foto von Al-Bakr zu einem Polizeirevier gefahren. © dpa | Hendrik Schmidt
      Medien berichteten vom Ort der Festnahme: Nachdem der 22-Jährige am 8. Oktober bei einem Polizeieinsatz in Chemnitz den Beamten entkommen war, übergaben ihn seine Landsleute am 10. Oktober der Polizei.
      Medien berichteten vom Ort der Festnahme: Nachdem der 22-Jährige am 8. Oktober bei einem Polizeieinsatz in Chemnitz den Beamten entkommen war, übergaben ihn seine Landsleute am 10. Oktober der Polizei. © Getty Images | Carsten Koall
      Bei dem Anti-Terror-Einsatz in Chemnitz hatte die Polizei am 8. Oktober in einer Wohnung mehrere hundert Gramm hochexplosiven Sprengstoff gefunden. Zuvor waren die unverdächtigen Bewohner des Hauses in der Siedlung „Fritz Heckert“ aus ihren Wohnungen geleitet worden.
      Bei dem Anti-Terror-Einsatz in Chemnitz hatte die Polizei am 8. Oktober in einer Wohnung mehrere hundert Gramm hochexplosiven Sprengstoff gefunden. Zuvor waren die unverdächtigen Bewohner des Hauses in der Siedlung „Fritz Heckert“ aus ihren Wohnungen geleitet worden. © dpa | Hendrik Schmidt
      Dschaber al-Bakr soll einen Sprengstoffanschlag geplant haben. Er entkam der Polizei nach Angaben eines Sprechers nur knapp. Nach Informationen vom 9. Oktober sollen die Beamten ihn gesehen haben, konnten ihn aber nicht fassen. Eine LKA-Sprecherin bestätigte, dass ein Warnschuss abgegeben worden sei.
      Dschaber al-Bakr soll einen Sprengstoffanschlag geplant haben. Er entkam der Polizei nach Angaben eines Sprechers nur knapp. Nach Informationen vom 9. Oktober sollen die Beamten ihn gesehen haben, konnten ihn aber nicht fassen. Eine LKA-Sprecherin bestätigte, dass ein Warnschuss abgegeben worden sei. © dpa | Hendrik Schmidt
      Einsatzkräfte des SEK stürmten die Wohnung, in der sich der Verdächtige aufgehalten hatte. Das Wohngebiet wurde abgeriegelt.
      Einsatzkräfte des SEK stürmten die Wohnung, in der sich der Verdächtige aufgehalten hatte. Das Wohngebiet wurde abgeriegelt. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
      Der Sprengstoff, den die Ermittler schließlich fanden, war offenbar gut versteckt gewesen.
      Der Sprengstoff, den die Ermittler schließlich fanden, war offenbar gut versteckt gewesen. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
      Weil der Transport sehr gefährlich gewesen wäre, vernichteten Spezialisten den Fund durch gezielte Sprengung in den extra ausgehobenen Erdlöchern in der Siedlung.
      Weil der Transport sehr gefährlich gewesen wäre, vernichteten Spezialisten den Fund durch gezielte Sprengung in den extra ausgehobenen Erdlöchern in der Siedlung. © dpa
      Später nahmen die Polizisten einen Verdächtigen im Fritz-Heckert-Wohngebiet in Chemnitz fest. Der Syrer soll der Mieter der Wohnung sein, in dem der Sprengstoff gefunden wurde.
      Später nahmen die Polizisten einen Verdächtigen im Fritz-Heckert-Wohngebiet in Chemnitz fest. Der Syrer soll der Mieter der Wohnung sein, in dem der Sprengstoff gefunden wurde. © dpa | Bernd März
      Gegen ihn wird – wie gegen den Hauptverdächtigen Al-Bakr, nachdem bundesweit öffentlich gefahndet wurde – wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (Paragraf 89a StGB) ermittelt.
      Gegen ihn wird – wie gegen den Hauptverdächtigen Al-Bakr, nachdem bundesweit öffentlich gefahndet wurde – wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (Paragraf 89a StGB) ermittelt. © dpa | Bernd März
      Während der Fahndung riegelte die Polizei am Nachmittag des 8. Oktober den Hauptbahnhof in Chemnitz ab.
      Während der Fahndung riegelte die Polizei am Nachmittag des 8. Oktober den Hauptbahnhof in Chemnitz ab. © dpa | Arno Burgi
      Die Fahnder nahmen zwei Männer fest.
      Die Fahnder nahmen zwei Männer fest. © dpa | Arno Burgi
      Die Festgenommenen hatten einen Koffer bei sich. Ein ferngesteuerter Roboter zur Bombenentschärfung untersuchte auf einem Gleis im Hauptbahnhof in Chemnitz den roten Koffer. Er erwies sich als harmlos. Die beiden Männer kamen am 9. Oktober wieder frei.
      Die Festgenommenen hatten einen Koffer bei sich. Ein ferngesteuerter Roboter zur Bombenentschärfung untersuchte auf einem Gleis im Hauptbahnhof in Chemnitz den roten Koffer. Er erwies sich als harmlos. Die beiden Männer kamen am 9. Oktober wieder frei. © dpa | Arno Burgi
      Auch am Berliner Flughafen Schönefeld erhöhte die Polizei am 8. Oktober die Sicherheitsvorkehrungen.
      Auch am Berliner Flughafen Schönefeld erhöhte die Polizei am 8. Oktober die Sicherheitsvorkehrungen. © Getty Images | Clemens Bilan
      Die Beamten kontrollierten zahlreiche Fahrzeuge. „Wir hatten Hinweise – nachrichtendienstliche Hinweise – , dass er zunächst einmal Züge in Deutschland angreifen wollte. Zuletzt konkretisierte sich dies mit Blick auf Flughäfen in Berlin“, sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen am 10. Oktober.
      Die Beamten kontrollierten zahlreiche Fahrzeuge. „Wir hatten Hinweise – nachrichtendienstliche Hinweise – , dass er zunächst einmal Züge in Deutschland angreifen wollte. Zuletzt konkretisierte sich dies mit Blick auf Flughäfen in Berlin“, sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen am 10. Oktober. © Getty Images | Clemens Bilan
      In Chemnitz waren hunderte Polizisten im Einsatz.
      In Chemnitz waren hunderte Polizisten im Einsatz. © dpa | Arno Burgi
      Großeinsatz der Polizei im Fritz-Heckert-Wohngebiet in Chemnitz.
      Großeinsatz der Polizei im Fritz-Heckert-Wohngebiet in Chemnitz. © dpa | Bernd März
      Ein Großaufgebot von mehreren hundert Polizisten war im Einsatz.
      Ein Großaufgebot von mehreren hundert Polizisten war im Einsatz. © dpa | Bernd März
      Sondereinsatzkräfte der Polizei im Plattenbauviertel in Chemnitz.
      Sondereinsatzkräfte der Polizei im Plattenbauviertel in Chemnitz. © dpa | Arno Burgi
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      (dpa)