Straßburg. Milliardenschwere Investitionen für die Wirtschaft und mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung sind Junckers Plan für Europas Zukunft.

Der Präsident, den manche schon für amtsmüde hielten, gibt sich kämpferisch. Im EU-Parlament erteilt Jean-Claude Juncker erstmal Kanzlerin Merkel und den anderen EU-Regierungschefs einen klaren Arbeitsauftrag: Beim EU-Gipfel in Bratislava am Freitag sollte sich jeder Teilnehmer doch drei Gründe überlegen, warum die EU gebraucht werde, fordert der EU-Kommissionspräsident. Drei Dinge, für die sie „auch Verantwortung übernehmen“ und „für die sie dann auch rasch Taten folgen lassen“.

Es ist eine klare Ansage hier im EU-Parlament in Straßburg, wo Juncker seine lang erwartete Jahresrede zur Lage der EU hält. Die Ansprache mitten in diesem schrecklichen Krisenjahr ist im Vorfeld als derart wichtig annonciert worden, dass Parlamentspräsident Martin Schulz die Rede so ankündigt: „Es ist der Moment, der zum Referenzpunkt geworden ist“. Aber Juncker reicht die Verantwortung gleich weiter: Ja, die EU sei nicht in Topform, „in Teilen haben wir es mit einer existenziellen Krise der EU zu tun.“ Aber, betont er: Es sei Sache der EU-Staaten, die Gründe der europäischen Einheit zu verteidigen. „Niemand kann das statt ihrer tun.“

Juncker beklagt Kompetenzgerangel

Juncker beklagt das Kompetenzgerangel und die Rivalitäten zwischen den Institutionen. In den Mitgliedstaaten sei zu oft nur von den eigenen nationalen Interessen die Rede. Sie dürften sich aber nicht vom Populismus verführen lassen. Der Präsident versichert, seine Kommission wolle nicht „die Nationalstaaten plattwalzen.“ Aber die „Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein“, hält er den Staaten vor, die wegen der Flüchtlingskrise und der Wirtschaftsflaute tief zerstritten sind.

Selbstkritik ist also nicht die Sache des Kommissionspräsidenten. Dafür trägt Juncker ohne große Emotionen eine bemerkenswerte Vielzahl konkreter Projekte vor, mit denen die EU ihre Lösungskompetenz bei zentralen Herausforderungen bewältigen soll. Eine „positive Agenda“ nennt er das Krisenprogramm, das vor allem im sicherheitspolitischen Teil ehrgeizig ist:

Verteidigung: Die Zusammenarbeit der EU-Staaten in der Militärpolitik soll enger, die Verteidigungsfähigkeit gebündelt werden. Juncker plädiert für ein europäisches Hauptquartier, von dem aus die EU-Operationen geführt werden sollen. In den vergangenen zehn Jahren habe die EU mehr als 30 zivile und militärische Missionen unternommen, es fehle aber an einer effektiven Struktur. Die EU solle auch mehr „gemeinsame militärische Möglichkeiten“ erhalten – ein erster Schritt zu einer europäischen Armee.

„Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali alleinzulassen“, sagt Juncker. Noch 2016 werde die Kommission einen europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der Forschung und Entwicklung „einen kräftigen Schub verleiht“. Zudem sollten Rüstungsgüter möglichst gemeinsam beschafft werden. Den Hintergrund der Initiative nennt Juncker lieber nicht: Es ist der Brexit. Die Briten standen bisher auf der Bremse bei engerer Militärkooperation in der EU. Auch die EU-Regierungschefs haben längst erkannt, welche Chance der britische EU-Austritt hier bietet: Sie wollen das Thema der Verteidigungskooperation beim Gipfel in Bratislava besprechen. Deutschland und Frankreich haben bereits eine Initiative gestartet.

Außenpolitik:Auch auf diesem Feld will der Kommissionschef mehr Zusammenarbeit. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini „muss unsere europäische Außenministerin werden“, sagt Juncker. So sollten alle diplomatischen Dienste der EU-Länder gebündelt werden, um Europas Einfluss in internationalen Verhandlungen zu erhöhen. In diesem Sinn fordert Juncker auch eine „europäische Strategie für Syrien“.

Sicherheit: Die EU soll auf die unkontrollierte Einreise mit neuen Schutzvorkehrungen reagieren: So soll der Aufbau eines europäischen Grenz- und Küstenschutzes forciert werden. Juncker verspricht Bulgarien bis Oktober 200 zusätzliche Grenzwächter und 50 Fahrzeuge zum Schutz der EU-Außengrenze. Die Registrierung von Einreisenden in die EU soll verbessert werden.

Wirtschaft: Das von Juncker 2014 angeschobene Investitionsprogramm soll verdoppelt werden. Bis 2025 soll es in Europa ein flächendeckendes 5G-Netz und in den Zentren der Großstädte kostenfreies Drahtlosinternet geben.

Vergleichsweise knapp geht Juncker auf die zentralen Krisen ein. Wie der Streit in der Flüchtlingspolitik beendet werden kann, sagt der Kommissionspräsident nicht. Und zum Thema Brexit macht er erneut klar, dass die Briten nur Zugang zum Binnenmarkt bekämen, wenn sie die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptierten. Doch versichert Juncker auch, durch den Austritt der Briten „ist die EU in ihrem Bestand nicht gefährdet.“ Alles weitere werden nun zunächst die EU-Regierungschefs beraten. Juncker hält sich zurück. Mitreißen kann der Präsident mit dieser Ansprache nicht. Er will es auch nicht. Gleich zu Beginn seines Auftritts hatte Juncker die Erwartungen gedämpft: Die Rede, die er halte, sei mit der des US-Präsidenten zum State of the Union nicht vergleichbar. „Wir sind“, sagt der Kommissionspräsident, „nicht die Vereinigten Staaten von Europa.“