Berlin. Vor fast 20 Jahren verschwand der israelische Soldat Guy Hever. Seine Mutter und die israelische Armee hoffen noch auf seine Rückkehr.

Lebt ein Mensch noch, nur weil es keinen Beweis für seinen Tod gibt? Rina Hever sitzt im Sessel in der Lobby eines Berliner Hotels, die Lippen rosa geschminkt, sie trägt Ohrringe, eine dünne Kette aus Gold ruht um ihren Hals. Hever, 66, sieht aus wie eine Schriftstellerin auf Lesereise, wie eine Konzertpianistin auf Tour. Ein schöner Gedanke.

Aber dann liegt da vor ihr dieses Heft, gebunden wie eine Pressemappe, mit Fotos von Guy. Der kleine Guy in den Armen des Vaters. Guy lachend im Garten. Guy mit einem selbst gemalten Bild, Sonne, Haus, Baum, Pinocchio-Figur mit Hut. Guy mit Freunden. Guy bei der Armee. Das erste Foto, ganz vorne, zeigt eine Uhr, die Guys Gesicht umrahmt. „His life is ticking away“, steht daneben. Seine Lebenszeit läuft ab.

Von ihrem Sohn blieb nur ein Buch zurück

Es ist der 17. August 1997, als Guy Hever, gerade 20 Jahre alt, Soldat der israelischen Armee, Identifikationsnummer 5210447, verschwindet. Um 9.15 Uhr morgens beendet Hever seinen Wachdienst, steigt die schmale Metalltreppe von seinem Posten zwischen Sand und Gestrüpp ab. Das Camp seiner Einheit liegt mitten auf den Golanhöhen, 23 Kilometer entfernt von der Grenze zu Syrien.

Später werden Soldaten das Buch finden, das Hever auf seinem Posten zurückgelassen hatte. „Doppelt oder nichts“, heißt es. Ein Science-Fiction-Roman über den jungen Sam, der in den Körpern von zwei Menschen gefangen ist: in dem eines armen Brummifahrers und dem eines intelligenten Professors. Rina Hever sagt, dass Guy Science-Fiction liebte.

Wie diese israelischen Soldaten war Guy Hever auf den Golanhöhen stationiert. 23 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt wurde er das letzte Mal lebend gesehen.
Wie diese israelischen Soldaten war Guy Hever auf den Golanhöhen stationiert. 23 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt wurde er das letzte Mal lebend gesehen. © IMAGO | imago/Xinhua

Rina Hever ist Guys Mutter. Sie streichelt mit ihrem Zeigefinger über eines der Fotos in der Mappe vor ihr. „Wer so lächelt, der lebt noch. Er ist irgendwo auf dieser Erde. Ich weiß es.“ Fast 20 Jahre ist es her, dass sie ihren Sohn gesehen hat. Seitdem: nichts. Kein Foto, keine Nachricht, kein Leichnam.

Er kauft morgens noch eine Cola und verlässt das Camp

Um halb zehn an diesem Augustmorgen 1997 sieht ein Soldat seinen Kameraden noch, wie er am Getränkeautomaten im Camp eine Cola kauft. Er trägt Uniform und Gewehr. Dann verlässt Guy das Camp. Gesehen hat ihn danach niemand mehr. Fast 7000 Tage ist das her. Kann ein Mensch einfach so verschwinden?

In Deutschland werden rund 200 Menschen jeden Tag als vermisst gemeldet. Die meisten Fälle klären sich innerhalb einer Woche auf, fast alle im Jahr nach der Anzeige. Nur wenige Menschen bleiben verschollen. Aber Deutschland ist nicht Israel. Das Land im Nahen Osten ist umgeben von Erzfeinden und Krisenstaaten, Israel führte Kriege gegen arabische Nachbarstaaten, das Land ist hoch militarisiert. Soldaten sind Zielscheiben von Islamisten. Wurde Guy Hever entführt?

„Sie haben ihn bei der Armee nie verstanden“

Das glaubt jedenfalls die Mutter. Wenn Rina Hever von ihrem Sohn erzählt, spricht sie leise. „Guy war ein Junge mit Witz.“ Er malte gerne, las viel. Er langweilte sich in der Schule, hatte wenige gute Freunde. In der Armee schlief er einmal während der Wache ein, Freunde aus seiner Einheit berichten in israelischen Medien, Guy sei oft zynisch gewesen, bekam Ärger mit Vorgesetzten. „Sie haben ihn bei der Armee nie verstanden“, sagt seine Mutter.

Manchmal versinkt ihr Blick im gedimmten Licht der Hotellobby. Gedanken an Guy sacken durch, sein Lächeln schlägt die Brücke von der Verzweiflung zur Hoffnung. „Wer lange genug forscht, wird etwas finden“, sagt Rina Hever. Aber haben sie nicht alles versucht?

Nachdem Hever verschwindet, durchstöbern Suchtrupps mit Spürhunden die Gegend, auch Flugzeuge überfliegen das Gebiet, sogar Roboter setzt das Militär ein, die das minenverseuchte Gebiet scannen. Nichts. Die Armee setzt eine Belohnung aus. Nichts. Soldaten suchen weiter. Nichts.

Fünf israelische Kämpfer gelten als vermisst

Das müsse nichts heißen, sagt die Familie auch Jahre nach dem Verschwinden. Jedenfalls in Israel. Fünf Jahre lang war der Soldat Gilad Schalit in der Hand der Hamas, erst dann gelang seine Freilassung. 2005 verschwand der Soldat Majdi Halabi, 2012 fand man seine Leiche. Der Pilot Ron Arad stürzte 1986 bei Angriffen auf die Palästinenser mit seinem Kampfjet ab, überlebte, wurde als Geisel genommen.

Er kehrte nie zurück. Derzeit gelten fünf israelische Kämpfer als vermisst. Immer aber gab es Zeugen der Angriffe und Entführungen, immer gab es Spuren. Wenigstens etwas.

Vielleicht war alles anders und es gab keine Entführung

Die Spuren nach Guy Hever haben sich alle im Sand der Golanhöhen verlaufen. 2007 berichtete die größte israelische Zeitung über ein Schreiben eines militanten syrischen Widerstandkommandos in den Golanhöhen, die bekannt gibt, sie halte einen israelischen Soldaten gefangen. Das kann nur Guy sein, denkt die Familie.

1988 entführte eine palästinensische Splittergruppe den arabischen Israeli Massad Abu Toameh. Erst 2001 tauchte er wieder auf – nach 14 Jahren in Syrien. Und nun Guy? Doch nach dem Schreiben kam nie wieder etwas von der ominösen Widerstandsgruppe. Keine Forderungen, kein Foto. Der Strohhalm knickt weg.

Nach Jahren ohne Hinweise sickert bei Politikern und Journalisten, die im Fall Hever recherchiert hatten, ein Gedanke durch. Guy Hever wurde nicht entführt. Vielleicht war alles viel simpler. Guy beging Selbstmord, oder es passierte ein Unfall, Tiere fraßen seine Leiche. „Jedenfalls gibt es keine Hinweise auf eine Entführung. Ich glaube nicht daran“, sagt der israelische Journalist Ronen Bergman, der seit Jahren Experte für israelische Armee und Geheimdienste ist und auch die Akten zum Fall Hever studiert hat.

Die Geschichte der Mutter rückt in den Vordergrund

Hevers Familie glaubt daran. Und so wird die Geschichte vom verschollenen Soldaten Guy Hever mit jedem Jahr mehr auch die Geschichte seiner verzweifelt kämpfenden Mutter. Rina Hever blättert in der Berliner Hotellobby durch die Fotomappe. Dort sind auch Bilder von ihr. Gemeinsam mit Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Mit Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon. Mit Botschaftern, Ex-Militärs, Menschenrechtlern. Auch beim Chef des Bundesnachrichtendienstes, damals Ernst Uhrlau, war Hevers Mutter schon. Immer sprach sie vor, erzählte von Guys Schicksal, bat um Hilfe: vermitteln, suchen, Drähte legen in syrische Machtzirkel.

2007, das Strohhalm-Jahr. Eine Deutsche meldet sich bei Rina Hever. Sie sei 2005 als Forscherin in Syrien gewesen. Der Geheimdienst hatte sie festgenommen und kurz zu ihren Forschungen verhört. Und weil sie nur Hebräisch sprach, kam ein Dolmetscher dazu. Als sie nun zufällig einen Bericht über Guy Hever las, wusste sie sofort: Er war es. Doch auch die Gespräche mit der syrischen Regierung führen zu nichts. „Die haben abgeblockt“, sagt Hever heute. Vielleicht verheimlichten sie etwas. Vielleicht wussten sie nichts. Jetzt steckt Syrien im Chaos fest. Wen soll man da noch fragen?

Syrische Flüchtlinge sollen ihr bei Suche helfen

Hever ist nach Deutschland gereist, weil sie hofft, einer der vielen syrischen Flüchtlinge wisse etwas über ihren Sohn. Sie spricht mit Hilfsorganisationen in den Asylunterkünften, will Aushänge ankleben. Neben Hever sitzt eine Frau, die sie begleitet. Sie ist Soldatin der israelischen Armee, Abteilung für vermisste Soldaten, „missing in action“. Die Armee zahlt Hever Flug und Hotel. Sie eröffnet Wege in Botschaften und Militär. Sie druckt Fotos von Guy für die Mappe aus.

Zwei Seiten haben den Kampf um Guy noch nicht aufgegeben. Guys Mutter – und das israelische Militär. Noch im November schickte die Armee Taucher, um die Wasserreservoires im Grenzgebiet abzusuchen. Und so sagt Hevers Geschichte auch viel darüber, welchen Stellenwert Soldaten in der israelischen Gesellschaft haben.

Suche nach Hever hat auch symbolischen Charakter

Experte Ronen Bergman sagt: „Israel ist mit seinen Soldaten einen ungeschriebenen Vertrag eingegangen: Niemand wird aufgegeben.“ Wäre ein Israeli ohne Uniform verschollen, wäre die Suche nie so umfassend gewesen, sagt Bergman.

Misstrauen prägt die Region, auch Hass und Krieg zwischen Juden und Arabern. Sicherheit ist in Israels Politik das höchste Gut. Jeder Israeli muss zum Militär, der Geheimdienst ist berüchtigt. Niemand wird aufgegeben. Im Tausch für Schalit ließ Israel 1027 vor allem palästinensische Gefangene frei, Dutzende waren an Attentaten beteiligt. 1150 Gefangene waren es für den Soldaten Youssef Grof, darunter der Palästinenser Ahmad Yassin, der später die Hamas mitgründete.

So langsam wird der ungeschriebene Vertrag zum Problem

Immer wieder: einer gegen Hunderte. „Die Unfähigkeit der Israelis, einen einzigen entführten Soldaten zu tolerieren, führt zu großen Protestbewegungen, die starken Einfluss auf die Strategie der Politik haben“, sagt Bergman. Der ungeschriebene Vertrag wird zum Sicherheitsrisiko.

Als Guy Hever verschwand, war kein Krieg. Und wo es keine Spuren für eine Entführung gibt, wird der Kampf um den Soldaten zu einem moralischen Verwaltungsakt, die Suche zum Symbol.

Wird er vergessen, stoppt auch die Suche

Und Rina Hevers Reise zu den Diplomaten dieser Welt zu einer zermürbenden Routine. „Ich hasse das Rumfliegen“, sagt sie im Berliner Hotel. „Ich bin lieber zu Hause, im Garten, so wie Guy das mochte.“ Aber sie tue das für ihn, sie werde nicht aufhören. Weiterreisen, weiterreden, wenigstens den Fall Guy Hever am Leben halten. Denn wird er vergessen, stoppt auch die Suche.

Fast 40 Jahre wäre Guy Hever jetzt alt. Sein Bruder und die Schwester haben selbst schon Kinder. Einer ihrer Enkel heiße Amid Guy. Und dann sagt Rina Hever noch: „Journalisten berichten am liebsten von Geschichten mit einem klaren Ende.“ Von Schicksalsschlägen mit Happy End oder ohne. „Aber hier ist nichts abgeschlossen“, sagt sie. „Hier bleiben nur Fragezeichen.“