Berlin. „Wir schaffen das“, sagt Kanzlerin Merkel am 31. August 2015. Danach schreitet sie zur Tat. Chronik einer historischen Entscheidung.

Sigmar Gabriel erinnert sich an den Anruf. Der 4. September 2015 ist ein Freitag und schon Abend, als sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihm daheim in Goslar meldet. Es gebe da einen Plan – mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier abgestimmt –, ob der SPD-Chef einverstanden sei, bis zu 8000 Flüchtlinge aufzunehmen?

Gabriel lächelt, wenn er zurückdenkt. An einem Plan habe er nicht mitgearbeitet, wird ihm später Parteifreund Steinmeier versichern; er war informiert worden und hatte wie Gabriel keinen Einwand. 8000 Flüchtlinge werden es auch nicht. An dem Wochenende kommen gut 20.000 Menschen – wie viele genau, weiß keiner –, in den Folgemonaten weitere Hunderttausende. „Wir haben damals nicht gewusst“, sagt Gabriel, „welche Büchse geöffnet wurde.“

So sehen die Flüchtlingsrouten heute aus

Im Herbst 2015 war die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt. Wie wichtige Orte entlang der Route durch Europa damals aussahen und wie die Lage heute ist, zeigt die Bildagentur Getty in Fotomontagen. Oben: Flüchtlinge erreichen die Insel Lesbos im Oktober 2015. Unten: Im Juli 2016 ist die Küste verlassen.
Im Herbst 2015 war die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt. Wie wichtige Orte entlang der Route durch Europa damals aussahen und wie die Lage heute ist, zeigt die Bildagentur Getty in Fotomontagen. Oben: Flüchtlinge erreichen die Insel Lesbos im Oktober 2015. Unten: Im Juli 2016 ist die Küste verlassen. © Getty Images | Spencer Platt/Milos Bicanski
Oben: Am Strand von Lesbos sammeln sich im November 2015 Rettungswesten, die die Flüchtlinge bei ihrer Überfahrt von der Türkei nach Griechenland getragen haben. Unten: Im Juli 2016 sind keine Spuren mehr von den gefährlichen Bootsfahrten zu sehen.
Oben: Am Strand von Lesbos sammeln sich im November 2015 Rettungswesten, die die Flüchtlinge bei ihrer Überfahrt von der Türkei nach Griechenland getragen haben. Unten: Im Juli 2016 sind keine Spuren mehr von den gefährlichen Bootsfahrten zu sehen. © Getty Images | Milos Bicanski
Oben: Ehrenamtliche Helfer waten im November 2015 durch das Wasser, um ein Flüchtlingsboot an Land zu ziehen. Unten: Im Sommer 2016 scheint die Krise weit entfernt zu sein.
Oben: Ehrenamtliche Helfer waten im November 2015 durch das Wasser, um ein Flüchtlingsboot an Land zu ziehen. Unten: Im Sommer 2016 scheint die Krise weit entfernt zu sein. © Getty Images | Milos Bicanski
Was für ein Kontrast! Oben: Hunderte Flüchtlinge marschieren im Oktober 2015 entlang slowenischer Felder. Sie werden von Polizisten begleitet. Unten: An gleicher Stelle nutzt eine Radfahrerin das schöne Sommerwetter für eine Tour.
Was für ein Kontrast! Oben: Hunderte Flüchtlinge marschieren im Oktober 2015 entlang slowenischer Felder. Sie werden von Polizisten begleitet. Unten: An gleicher Stelle nutzt eine Radfahrerin das schöne Sommerwetter für eine Tour. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Während sich der Flüchtlingsstrom im Oktober 2015 seinen Weg in Richtung eines Zeltlagers bei Rigonce in Slowenien macht (oben), ist auf dem kleinen Feldweg ein knappes Jahr später kein Mensch unterwegs (unten).
Während sich der Flüchtlingsstrom im Oktober 2015 seinen Weg in Richtung eines Zeltlagers bei Rigonce in Slowenien macht (oben), ist auf dem kleinen Feldweg ein knappes Jahr später kein Mensch unterwegs (unten). © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Im September 2015 machen sich Hunderte Migranten auf den Weg vom ungarischen Hegyeshalom nach Österreich. Unten: In der Nähe der Bahnstation von Hegyeshalom überquert eine einsame Radfahrerin die Straße.
Oben: Im September 2015 machen sich Hunderte Migranten auf den Weg vom ungarischen Hegyeshalom nach Österreich. Unten: In der Nähe der Bahnstation von Hegyeshalom überquert eine einsame Radfahrerin die Straße. © Getty Images | Christopher Furlong/Matt Cardy
Oben: Neben der kleinen Kirche bei Dobova (Slowenien) erstreckt sich der Flüchtlingstross bis zum Horizont. Unten: Inzwischen trifft man hier wieder nur selten auf Menschen.
Oben: Neben der kleinen Kirche bei Dobova (Slowenien) erstreckt sich der Flüchtlingstross bis zum Horizont. Unten: Inzwischen trifft man hier wieder nur selten auf Menschen. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Flüchtlinge laufen im vergangenen September über eine Autobahn im ungarischen Roszke. Sie hatten sich zuvor geweigert, zur Registrierungsstelle zu reisen. Unten: Auf der M5/E-75 sind im Juli 2016 nur Autos unterwegs.
Oben: Flüchtlinge laufen im vergangenen September über eine Autobahn im ungarischen Roszke. Sie hatten sich zuvor geweigert, zur Registrierungsstelle zu reisen. Unten: Auf der M5/E-75 sind im Juli 2016 nur Autos unterwegs. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Hunderte Flüchtlinge nutzen im September 2015 die Autobahn im ungarischen Roszke als Flüchtlingsroute. Unten: Die Autobahn kann wieder von Autos befahren werden, Menschen sind nicht mehr zu sehen.
Oben: Hunderte Flüchtlinge nutzen im September 2015 die Autobahn im ungarischen Roszke als Flüchtlingsroute. Unten: Die Autobahn kann wieder von Autos befahren werden, Menschen sind nicht mehr zu sehen. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Die ungarische Grenzpolizei setzt im September 2015 Wasserwerfer ein, um den Übergang nach Serbien in der Stadt Horgos zu sichern: Unten: Die Grenze ist heute so gut wie unbewacht.
Oben: Die ungarische Grenzpolizei setzt im September 2015 Wasserwerfer ein, um den Übergang nach Serbien in der Stadt Horgos zu sichern: Unten: Die Grenze ist heute so gut wie unbewacht. © Getty Images | Christopher Furlong/Matt Cardy
Oben: Hunderte Flüchtlinge bahnen sich im kroatischen Tovarnik ihren Weg zum Bahnhof, um nach Zagreb zu kommen. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Serbien dicht gemacht hat, suchen viele Flüchtlinge den Weg über Kroatien. Unten: Im Juli 2016 ist Ruhe eingekehrt in Tovarnik.
Oben: Hunderte Flüchtlinge bahnen sich im kroatischen Tovarnik ihren Weg zum Bahnhof, um nach Zagreb zu kommen. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Serbien dicht gemacht hat, suchen viele Flüchtlinge den Weg über Kroatien. Unten: Im Juli 2016 ist Ruhe eingekehrt in Tovarnik. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Der Bahnhof im kroatischen Tovarnik platzt im September 2015 aus allen Nähten. Unten: Im Juli 2016 ist weit und breit kein Fahrgast in Sicht.
Oben: Der Bahnhof im kroatischen Tovarnik platzt im September 2015 aus allen Nähten. Unten: Im Juli 2016 ist weit und breit kein Fahrgast in Sicht. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Im Spätherbst 2015 suchen Tausende Flüchtlinge den Weg von der Türkei über die griechischen Inseln nach Mitteleuropa. Im November ist der Hafen von Mytilene auf Lesbos überfüllt mit Flüchtenden, die auf eine Fähre nach Athen warten. Unten: Der Hafen von Mytilene im Juli 2016 bietet Reisenden viel Freiraum.
Oben: Im Spätherbst 2015 suchen Tausende Flüchtlinge den Weg von der Türkei über die griechischen Inseln nach Mitteleuropa. Im November ist der Hafen von Mytilene auf Lesbos überfüllt mit Flüchtenden, die auf eine Fähre nach Athen warten. Unten: Der Hafen von Mytilene im Juli 2016 bietet Reisenden viel Freiraum. © Getty Images | Carl Court/Milos Bicanski
Oben: Hunderte Flüchtlinge kampieren im August 2015 entlang einer Bahnstrecke im ungarischen Roszke. Unten: Wenn im Juli 2016 nicht gerade ein Zug anrollt, herrscht Ruhe in Roszke.
Oben: Hunderte Flüchtlinge kampieren im August 2015 entlang einer Bahnstrecke im ungarischen Roszke. Unten: Wenn im Juli 2016 nicht gerade ein Zug anrollt, herrscht Ruhe in Roszke. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Der Keleti-Bahnhof in Budapest ist im September 2015 einer der größten Flüchtlings-Hotspots in Europa. Zwischenzeitlich verlassen keine Züge mehr den zentralen Bahnhof in der ungarischen Hauptstadt. Unten: Im Juli 2016 herrscht Normalität im Keleti-Bahnhof.
Oben: Der Keleti-Bahnhof in Budapest ist im September 2015 einer der größten Flüchtlings-Hotspots in Europa. Zwischenzeitlich verlassen keine Züge mehr den zentralen Bahnhof in der ungarischen Hauptstadt. Unten: Im Juli 2016 herrscht Normalität im Keleti-Bahnhof. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Als sich die Lage am Budapester Keleti-Bahnhof im September 2015 immer weiter zuspitzt, werden Busse eingesetzt, um die Flüchtlinge Richtung Österreich weiterzubringen. Der Busbahnhof entwickelt sich zu einem riesigen Zeltlager. Unten: Der Busbahnhof am Keleti-Bahnhof ist im Juli 2016 am Abend zeitweise menschenleer.
Oben: Als sich die Lage am Budapester Keleti-Bahnhof im September 2015 immer weiter zuspitzt, werden Busse eingesetzt, um die Flüchtlinge Richtung Österreich weiterzubringen. Der Busbahnhof entwickelt sich zu einem riesigen Zeltlager. Unten: Der Busbahnhof am Keleti-Bahnhof ist im Juli 2016 am Abend zeitweise menschenleer. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Nicht nur am Busbahnhof, sondern überall rund um den Keleti-Bahnhof in Budapest ist ein Flüchtlings-Camp entstanden. Viele Menschen bringen Kleiderspenden, um den Flüchtenden zu helfen. Unten: Vor dem Keleti-Bahnhof wird es im Juli 2016 allenfalls zur Rush Hour ein wenig unruhig.
Oben: Nicht nur am Busbahnhof, sondern überall rund um den Keleti-Bahnhof in Budapest ist ein Flüchtlings-Camp entstanden. Viele Menschen bringen Kleiderspenden, um den Flüchtenden zu helfen. Unten: Vor dem Keleti-Bahnhof wird es im Juli 2016 allenfalls zur Rush Hour ein wenig unruhig. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Vielfach müssen ungarische Polizisten und Helfer im September 2015 entkräftete Flüchtlinge aus der großen Menschenmenge am Budapester Keleti-Bahnhof bergen und sie versorgen. Unten: Die Wartehallen im Keleti-Bahnhof .
Oben: Vielfach müssen ungarische Polizisten und Helfer im September 2015 entkräftete Flüchtlinge aus der großen Menschenmenge am Budapester Keleti-Bahnhof bergen und sie versorgen. Unten: Die Wartehallen im Keleti-Bahnhof . © Getty Images | Win McNamee/Matt Cardy
Oben: Der Vorplatz vor dem Haupteingang des Budapester Keleti-Bahnhofs ist Anfang September 2015 von Hunderten Flüchtlingen besetzt. Auf Plakaten und mit Sprechchören bitten sie vor allem Angela Merkel immer wieder um Hilfe. Unten: Große Flüchtlingsgruppen hat man im Juli 2016 am Keleti-Bahnhof schon länger nicht mehr gesehen.
Oben: Der Vorplatz vor dem Haupteingang des Budapester Keleti-Bahnhofs ist Anfang September 2015 von Hunderten Flüchtlingen besetzt. Auf Plakaten und mit Sprechchören bitten sie vor allem Angela Merkel immer wieder um Hilfe. Unten: Große Flüchtlingsgruppen hat man im Juli 2016 am Keleti-Bahnhof schon länger nicht mehr gesehen. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Nicht nur am Hafen, sondern im gesamten Stadtgebiet von Mytilene auf Lesbos warten Flüchtlinge im November 2015 auf ihre Weiterreise. Eines der vielen wilden Camps auf den griechischen Inseln liegt in einem Olivenfeld. Unten: Im Juli 2016 gibt es auf dem Olivenfeld in Mytilene nichts zu sehen als Olivenbäume.
Oben: Nicht nur am Hafen, sondern im gesamten Stadtgebiet von Mytilene auf Lesbos warten Flüchtlinge im November 2015 auf ihre Weiterreise. Eines der vielen wilden Camps auf den griechischen Inseln liegt in einem Olivenfeld. Unten: Im Juli 2016 gibt es auf dem Olivenfeld in Mytilene nichts zu sehen als Olivenbäume. © Getty Images | Milos Bicanski
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Sie musste keine Grenze öffnen, sie war es längst

Immerhin wird er gefragt. Anders als viele Kabinettskollegen, fast alle EU-Partner, der Bundestag, die Ministerpräsidenten der Länder. Merkel vertritt ihre Entscheidung vor keinem Parlament oder Gremium, nur vor der Geschichte.

Wer Merkels einsame Entscheidung nachzeichnet, stößt auf lauter verhinderte Akteure: Steinmeier ist auf einem EU-Treffen in Luxemburg, Innenminister Thomas de Maizière liegt in Dresden mit 39,7 Grad Fieber im Bett. Von ihm wird es nie eine formale Anordnung geben, die Flüchtlinge passieren zu lassen.

Merkel ist am Jahrestag auf dem G-20-Gipfel in China

CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach will es anfangs nicht glauben, bis er eine Mitteilung des Ministeriums in der Hand hält: „Eine formale Ministeranordnung gibt es hierzu nicht.“ Es sei im Haus „im Einklang mit dem geltenden Recht so entschieden worden“, teilt die Ministerialbürokratie mit. Da stimmt einmal das Klischee vom Durchregieren.

Zum Jahrestag ist Merkel in China, G-20-Gipfel – größtmögliche Distanz zu den Kritikern daheim. Sie wird einiges lesen über den Tag, als sie die Grenzen öffnete. Vermutlich wird die Kanzlerin einmal mehr darauf hinweisen, „dass keine Grenze geöffnet werden musste“. Sie war es längst. Die Grenzen offen zu lassen, ist für Merkel nach ihren eigenen Worten „nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ“.

Merkel: „Ich habe zu lange hinter einem Zaun gelebt“

Die Kanzlerin hat gerade dadurch „Europas Ehre verteidigt“ (Finanzminister Wolfgang Schäuble), dass sie nicht in einen Wettbewerb eintrat um die schlechteste Behandlung der Migranten. Ihre Haltung hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im ZDF mit ihrem Europa- und Menschenbild erklärt. Eines hat er vergessen: ihre DDR-Biografie. Auf einem EU-Gipfel Ende Oktober sagt sie, an den Ungarn Viktor Orban gewandt: „Ich habe zu lange hinter einem Zaun gelebt, als dass ich mir das noch einmal zurückwünsche.“

In den Augen von CSU-Chef Horst Seehofer hat sie einen Fehler gemacht und obendrein überhöht. Seehofer kritisiert sie von Anfang an und schneidet ihr den Rückweg ab: Ohne Gesichtsverlust kann sie einen Fehler nicht korrigieren. Seehofer macht eine Machtfrage daraus.

Ein Tweet und seine Folgen

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Es gibt eine Vorgeschichte: Tausendfach verbreitet sich am 25. August ein Tweet, von dem Merkel zu spät erfährt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge meldet: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Zwei Tage später wird ein abgestellter Laster in Österreich mit 71 toten Flüchtlingen entdeckt.

Unendlich traurig ist auch das Foto, das am 3. September um die Welt geht. Es zeigt den angespülten leblosen Körper des dreijährigen Aylan an einem Strand in der Türkei. Es wird zum Symbol für Europas Versagen. Unter dem Hashtag „#KiyiyaVuranInsanlik“ kursiert es auf Twitter. Eine Nutzerin tippt, „wenn dieses Bild die Welt nicht verändert, haben wir alle versagt“.

Bundespräsident Joachim Gauck sagt einen wichtigen Satz

Es sind Bilder, die auch die Kanzlerin berühren. Sie will die Dinge zum Guten wenden. Schon am 31. August hatte sie ihr legendäres „Wir schaffen das“ ausgerufen. Bundespräsident Joachim Gauck ist nahe bei ihr. Im Verlauf der „Flüchtlingskrise“, wie es bald heißt, bedient er freilich jede Stimmung. „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich“ – auf Gaucks Satz kann sich jeder auf seine Art berufen.

Merkel handelt am 4. September einsam und unter großem Zeitdruck, aber sie ist nicht wirklich überrascht. Abend für Abend hatte sie daheim vor dem Fernseher verfolgt, wie immer mehr Syrer in Budapest stranden. Sie fragt sich, wann eine kritische Größe erreicht ist. Es ist so weit: Die ersten machen sich zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Österreich.

Routinetermine für die Kanzlerin

Am Freitag besucht die Kanzlerin zunächst eine Schule und eine wissenschaftliche Einrichtung in Bayern. Früh macht sich auch Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) auf. Er fliegt von Berlin nach Frankfurt, weiter nach Genf, am französischen Teil des Sees soll der Saarländer anderntags in Evian auftreten. Er ist der Redner beim „Evian-Kreis“, einer Runde von 50 Vorstandschefs aus Deutschland und Frankreich.

Reine Routine sind dann am Nachmittag Merkels Auftritte in NRW, zunächst in Essen auf dem Burgplatz beim Kommunalwahlkampf und danach in Köln bei der 70-Jahr-Feier der CDU. An ihrer Seite ist Bernhard Kotsch, stellvertretender Leiter ihres Büros, „der verschwiegenste aller ihrer verschwiegenen Mitarbeiter“, wie die FAZ schreibt. An diesem Tag ist Kotsch die personifizierte Schaltzentrale.

Faymann will Aktion mit Merkel abstimmen

Er muss Merkel über die sich überschlagenden Ereignisse auf dem Laufenden halten. Österreichs Ministerpräsident Werner Faymann hat sich gemeldet. Der Sozialdemokrat dringt auf eine konzertierte Aktion. Wenn, dann sollen beide Länder die Grenze offen halten, nicht Österreich allein. Zumal die Flüchtlinge erklärtermaßen nur ein Ziel haben: Deutschland.

Öffentlich lässt sich die Kanzlerin nichts anmerken, sie zieht ihr Programm durch. Zwischen den Terminen stimmt sich Merkel mit Altmaier und Faymann ab, der seinerseits mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Als Altmaier in Evian ankommt, steht die deutsch-österreichische Abmachung. Merkel möchte jetzt nur noch die Zustimmung von Gabriel und Seehofer einholen, ihre zwei Koalitionspartner.

Seehofer ist nicht zu erreichen

Der CSU-Chef ist in seinem Ferienhaus im Altmühltal, er geht nicht ans Handy. Es ist nach 23 Uhr. Weil er auf Merkels SMS nicht reagiert, probiert es Altmaier bei der Chefin der Staatskanzlei, Karolina Gernbauer. Auch sie erreicht Seehofer nicht, alarmiert dafür Innenminister Joachim Herrmann. Der fällt aus allen Wolken, er weiß, was auf Bayern zukommt, fragt: „Wie sollen wir alles schaffen?“ Das ist jetzt Herrmanns Problem.

Gegen Mitternacht preschen die Österreicher vor: Sie geben die Abmachung bekannt. „Wir haben jetzt eine akute Notlage bereinigt“, lässt die Kanzlerin über ihren Sprecher Georg Streiter erklären. Eine humanitäre Geste, eine Ausnahme – so verkauft es anderntags auch Altmaier im Fernsehen. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt spricht damals von einem „Septembermärchen“. Die Berliner Morgenpost titelt am 7. September: „Berlin empfängt Flüchtlinge aus Ungarn mit Welle der Hilfsbereitschaft.“ So ist die Stimmung.

Die Länder sind überrascht, Seehofer mehr als das: Er ist sauer

Eine negative Bedeutung wird dem Datum viel später zuteil. Auf Bewunderung folgt Ernüchterung, bald bröckelt der Rückhalt. Die SPD, damals an ihrer Seite, geht inzwischen auf Distanz. Ein Kritiker der ersten Stunde ist Seehofer. Am Morgen des 5. September holen er und Merkel ihr Telefongespräch nach.

Seehofer: „Das werden wir nicht beherrschen können.“

Merkel: „Da bin ich aber betrübt, dass du das so siehst.“

Viel haben sie sich nicht zu sagen. Der Streit mit der CSU, der bis heute fortwirkt, nimmt seinen Anfang. Seehofer ist zornig, weil er erst im Juli Merkel am Rande der Bayreuther Festspiele bekniet hatte, gegen den Flüchtlingsstrom vorzugehen. Und was macht sie? Schafft Fakten, und zwar aus seiner Sicht die falschen Fakten.

Ex-Außenminister Joschka Fischer erfährt zufällig von den Neuigkeiten

Sonnabend, „Hotel Royal“: Am Morgen läuft Altmaier dem früheren Außenminister Joschka Fischer über den Weg. En passant erfährt der Grüne, dass sich Historisches ereignen wird. Noch in Evian ruft Altmaier die Chefs der Staatskanzleien der 16 Länder zu einer Schaltkonferenz zusammen. Keiner hat sie gefragt, ob die Grenze geöffnet werden soll. Jetzt sind sie gefragt, sollen die Flüchtlinge versorgen. Sie sind irritiert.

Befremdet sind auch die Chefs der Sicherheitsbehörden, vielleicht mit Ausnahme von BND-Präsident Gerhard Schindler. Im Sommer ist er in der Ägäis segeln. Beim Törn fällt ihm ein Kriegsschiff auf. Der Geheimdienst-Chef greift zum Fernglas und beobachtet – Berufskrankheit –, wie die Marine Bootsflüchtlinge rettet. Es geht ihm unter die Haut. Auch Merkel sieht die humanitäre Katastrophe – und tut was. Ob es gut geht, weiß sie nicht. Es fühlt sich richtig an. Es ist das Prinzip Hoffnung, das sie leitet.