Kairo. Mit dem Eingreifen der Türkei wird die Lage in Syrien noch unübersichtlicher. Es gibt zahlreiche Akteure und Ziele – eine Analyse.

Fünf Tage nach dem türkischen Einmarsch in Syrien ist es am Wochenende erstmals zu heftigen Gefechten mit kurdischen Milizionären gekommen. Dieser Waffengang macht die Lage im Land nur noch heilloser. Wollte man für Syrien ein Organigramm des Krieges zeichnen, heraus käme ein unentwirrbares Knäuel an bewaffneten Akteuren, Zielen, Ideologien, Bündnissen und Feindschaften. Vier Kriege gleichzeitig toben mittlerweile in dem geschundenen Land. Der erste Krieg zwischen dem Assad-Regime und den Aufständischen, der zweite zwischen dem „Islamischen Staat“ (IS) und einer internationalen Allianz, der dritte zwischen Sunniten und Schiiten. Seit dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien ist ein vierter Krieg hinzugekommen – der Krieg um die Kurden. Er wird die bisherigen Allianzen neu verquirlen, vor allem aber den Vormarsch gegen die Terrormiliz IS erschweren.

1) Der Krieg um die Kurdengebiete

Die Türkei will mit der Operation „Euphrat Schild“ verhindern, dass die syrischen Kurden entlang ihrer Südgrenze ein durchgehendes Gebiet unter Kontrolle bekommen. Dazu soll die Armee einen Keil treiben zwischen die Kurdenenklave Afrin nordwestlich von Aleppo und das rund 400 Kilometer lange und bis zu 50 Kilometer breite kurdische Gebiet östlich des Euphrat, das bis zum Irak reicht. Das umkämpfte Terrain zwischen Afrin und dem Westufer des Euphrat stand bisher unter Kontrolle des IS.

Der Iran, das syrische Assad-Regime und die Türkei, ansonsten erbitterte Gegner, ziehen gegen die Autonomiewünsche der 30 Millionen Kurden an einem Strang. Alle drei fürchten, es könnte ein Kurdenstaat entstehen, der von Nordsyrien über den Nordirak bis zu den kurdischen Siedlungsgebieten des Irans reicht und der die separatistischen Tendenzen der türkischen Kurden neu befeuert. Assad-Freund Russland dagegen paktiert eher mit der kurdischen Seite.

2) Krieg der internationalen Allianz gegen den IS

Die Terrormiliz wird seit Monaten mit US-Luftunterstützung von der Kurdenmiliz angegriffen, um ein noch etwa 80 Kilometer langes Grenzloch abzudichten und das „Islamische Kalifat“ von seinen Nachschubwegen über die Türkei abzuschneiden. Wichtigster Erfolg war zuletzt die Eroberung der Stadt Manbidsch, die die Türkei nun mit eigenen Truppen besetzen möchte. Die Amerikaner, die sich als Verbündete der kurdischen YPG-Miliz im Kampf gegen den IS sehen, finden sich als Nato-Partner der Türkei plötzlich auf beiden Seiten der Front wieder.

Denn die türkische Invasion richtet sich ausgerechnet gegen die bisher einzigen Landstreitkräfte, die dem IS die Stirn bieten und ihn aus wichtigen syrisch-türkischen Grenzorten vertreiben konnten. Im Kampf gegen das „Islamische Kalifat“ sind die Kurden der zuverlässigste Verbündete der USA. Umso mehr empfinden ihre Kämpfer die Kollaboration Washingtons mit Ankara als Verrat – vor allem die Forderung, sich aus der gerade unter hohen Verlusten zurückeroberten Stadt Manbidsch auf das östliche Euphratufer zurückzuziehen. Sollte die syrische YPG-Miliz deshalb aus der Anti-IS-Koalition aussteigen, wird es so bald keine Rückeroberung der IS-Hochburg Raqqa geben.

Russland und die USA wollen ihre Luftangriffe koordinieren. Die Türkei hat nach einer Serie verheerender Anschläge fast seinen gesamten Tourismus eingebüßt. Saudi-Arabien erlebte kürzlich sogar ein IS-Attentat direkt neben der Prophetenmoschee in Medina. Und der Iran verzeichnet eine wachsende Radikalisierung seiner sunnitischen Minderheit im Osten und hob erst kürzlich nach eigenen Angaben einen Terrorring in Teheran aus.

3) Krieg zwischen Sunniten und Schiiten

Die sunnitischen Saudis sehen sich in einem apokalyptischen Kampf gegen den schiitischen Iran und wollen ihrem Erzfeind am Golf keinesfalls das Feld in Syrien überlassen. Die Türkei scheint sich mittlerweile mit einem politischen Überleben Assads abzufinden, sucht aber eine Annäherung an Russland, um den iranischen Einfluss vor Ort zu kontern. Der Iran wiederum stützt das Assad-Regime, um seinen wertvollsten arabischen Verbündeten zu behalten und um die Nachschubbrücke zur von ihm unterstützten libanesischen Hisbollah-Miliz zu sichern.

4) Krieg zwischen Assad-Regime und Aufständischen

Begonnen hat die syrische Tragödie im Jahr 2011 mit friedlichen Demonstrationen gegen den Diktator Baschar al-Assad. Der ließ auf seine Bürger schießen. Aus zunächst wenigen bewaffneten Gruppen hat sich ein unübersichtliches Geflecht von Aufständischen entwickelt. Die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes wird von dem Rebellenbündnis Dschaisch al-Fatah kontrolliert, das aus verschiedenen moderaten bis radikalen Gruppen besteht.

Darunter die dschihadistische Miliz Fatah al-Scham. Das syrische Regime fliegt mit seinen Verbündeten – zu denen unter anderem Russland gehört – Luftangriffe auf Stellungen der Aufständischen. In der einstigen Handelsmetropole Aleppo kontrolliert die Regierung den Westteil der Stadt. Die Aufständischen im Osten gehören einem weiten Spektrum zwischen extremistisch, islamistisch bis hin zu moderat an. Einige werden auch von den USA unterstützt.

Fazit: Mehr denn je wird deutlich – keine der Kriegsparteien kann gewinnen. Jeder der lokalen, regionalen und internationalen Akteure ist in der Lage, wenn sich das Kriegsgeschehen wendet, mit Nachschub zu eskalieren, um zumindest eine Niederlage abzuwenden. Kein Wunder, dass die Friedensgespräche in Genf seit Monaten ausgesetzt sind. Für Syrien heißt auch dies nichts Gutes. Und seiner Bevölkerung könnte nach fünf schrecklichen Kriegsjahren das Schlimmste noch bevorstehen.