Brüssel/Ankara. Die Regierung in Ankara droht der EU. Wenn nicht schnell die Visumfreiheit kommt, soll Schluss sein mit der Rücknahme von Flüchtlingen.

Die türkische Regierung droht konkreter denn je mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens. Steht Deutschland und den anderen EU-Staaten nun ein neuer Zustrom an Migranten bevor? Fragen und Antworten dazu:

Worum geht es bei der Drohung?

Im Gegenzug für ein Entgegenkommen bei der Rücknahme von Migranten hat sich die Türkei von der EU beschleunigte Verhandlungen über die Visa-Liberalisierung versprechen lassen. Außenminister Mevlüt Cavusoglu verlangt nun, dass türkische Staatsbürger einen Termin genannt bekommen, ab dem sie ohne Visum in die EU reisen dürfen. Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sagte er: „Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein – aber wir erwarten ein festes Datum.“ Wenn es nicht zu einer Visaliberalisierung komme, werde die Türkei gezwungen sein, „vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen“.

Kann Ankara den Pakt zur Flüchtlingskrise überhaupt aufkündigen?

Eigentlich nicht. In der am 18. März verabschiedeten Vereinbarung ist ausdrücklich festgelegt, dass die EU nur dann die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige aufheben muss, wenn bis dahin alle 72 Voraussetzungen erfüllt sind. Dass dies bislang nicht der Fall ist, räumt selbst die türkische Regierung ein. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat deutlich gemacht, dass er zumindest eine Bedingung auch gar nicht erfüllen will. Konkret geht es um die EU-Forderung nach einer Änderung der Anti-Terror-Gesetze, die aus EU-Sicht auch eine Verfolgung von Journalisten und Oppositionellen ermöglichen.

Wenn es eigentlich die Türkei ist, die Verabredungen nicht einhält - warum kann sie dann überhaupt drohen?

Bei der Vereinbarung zwischen der Türkei und der EU handelt es sich nicht um einen bindenden Vertrag. Theoretisch könnte die Türkei also von einem Tag auf den anderen mitteilen, dass sie es der EU nicht mehr erlaubt, auf den griechischen Inseln ankommende Migranten zurückzuschicken.

Wie reagiert die EU?

Sie will sich nicht erpressen lassen. „Wenn die Türkei die Visa-Liberalisierung haben möchte, müssen die Vorgaben erfüllt werden“, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission am Montag. Dies habe Präsident Jean-Claude Juncker mehrfach ganz klar gemacht. Gleichzeitig wird betont, dass man alles dafür tut, um das Abkommen zu retten. Experten der EU-Kommission berieten und unterstützten die türkischen Behörden bei der Umsetzung von ausstehenden Reformen, heißt es.

Wenn die Türkei das Flüchtlingsabkommen wirklich aufkündigt - würde es dann wieder zu steigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland kommen?

Nicht unbedingt. Unter Migranten hat sich herumgesprochen, dass beliebte Asylländer wie Deutschland oder Schweden über Griechenland und die Balkanroute kaum noch zu erreichen sind. Für diejenigen, die in ein bestimmtes Land nach Westeuropa wollen, macht es deswegen kaum noch Sinn, die Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln zu wagen.

Hat die Türkei dann überhaupt noch ein Druckmittel?

Der schwache Punkt der EU ist Griechenland. Sollten sich die Bedingungen für Flüchtlinge in der Türkei stark verschlechtern, könnten sie versucht sein, doch nach Griechenland zu kommen – auch wenn das Risiko besteht, dass sie von dort aus nicht in andere EU-Länder wie Deutschland weiterreisen können.

Wie reagiert man in Griechenland auf die Drohung der Türkei?

In Griechenland wächst die Sorge. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge hat im Verlauf des ersten Halbjahres stark abgenommen, von bis zu 2000 Menschen am Tag auf zuletzt null bis höchsten Hundert am Tag. Sollte die Flüchtlingszahl wieder stark steigen, könnten Chaos und Elend die Folge sein. Schon jetzt kommt das Krisenland kaum mit der Versorgung der Menschen hinterher. Dem Flüchtlingskrisenstab zufolge leben derzeit rund 58.000 Flüchtlinge und Migranten in Griechenland, mehr als 13.000 von ihnen haben Asyl beantragt.

Könnten die Drohungen eine Reaktion auf die scharfe EU-Kritik an den „Säuberungsaktionen“ nach dem Putschversuch sein?

Das ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Ein Berater von Erdogan drohte bereits im Mai damit, die Grenzkontrollen wieder zu lockern, um Migranten die Weiterreise in die EU zu ermöglichen. Er schrieb mit Blick auf den Streit über die Visa-Liberalisierungen über den Kurznachrichtendienst Twitter: „Sollten sie eine falsche Entscheidung treffen, schicken wir die Flüchtlinge.“

Ist die Visumfreiheit für Türken überhaupt noch realistisch?

Ganz chancenlos ist das nicht. Auf technischer Ebene gingen die Gespräche zumindest bis zum Putschversuch in der Türkei weiter. Dabei soll es Fortschritte bei der Frage gegeben haben, wie der Streit um die Terrorgesetze gelöst werden könnte. Erschwert werden dürfte die Suche nach einem Ausweg nun allerdings von der Diskussion um eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Sollten dort wieder Menschen hingerichtet werden, wird der gesamte EU-Beitrittsprozess der Türkei hinfällig werden. (dpa)