Berlin/London. Sie setzen auf Kalkül und Clownerie – und erreichen ihr Ziel: Wie die Populisten Farage und Johnson die Briten aus der EU führten.

Den Mann, den die Mehrheit der Briten zu ihrem nächsten Premierminister küren will, verlässt unter Buhrufen sein Haus. Er duckt sich und seine blonde Haarmatte hinter der Reihe von Polizisten, die eine Gasse bilden, um ihn zu schützen. Dann verschwindet Boris Johnson hinter den abgedunkelten Scheiben seines Wagens.

Es ist der Morgen seines größten politischen Triumphs. Boris Johnson aber sagt nichts. Kein Wort zum Ergebnis. Kein Wort zum Rücktritt seines großen Parteikonkurrenten David Cameron vom Amt des Premiers. Kein Wort zum Brexit, den Johnson verkauft, vorangetrieben und vollendet hat. Kein Wort. Vorerst.

Der ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson.
Der ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson. © dpa | Str

Vorerst nur lautes Buhen. Kameraleute hatten sich vor seinem Haus postiert, aber auch eine kleine Protestmenge vor allem junger Londoner. Menschen einer Stadt, in der zwei von drei Wählern für einen Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt hatten. Menschen einer Stadt, in der Johnson acht Jahre lang ihr Bürgermeister war. Doch jetzt zieht sich ein Riss durch das Königreich. Johnson, 51, früher Journalist in Brüssel, Europas Hauptstadt, Mitglied der Konservativen und einer, den manche einen „Clown“ nennen, weil er so britisch ironisch durch die Politik gaukelte, hat kräftig mitgerissen am Reich. Mit Erfolg.

Johnson und Farage kämpfen auch für unterschiedliche Ziele

Johnson ist das eine Gesicht des Brexit. Das andere steht schon wenige Minuten nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse vor den Kameras – und vor jubelnden Anhängern. Und Nigel Farage findet Worte, die wirken. „Wagt euch zu träumen, dass die Morgendämmerung angebrochen ist über dem unabhängigen Vereinigten Königreich.“

Brexit-Befürworter bejubeln ihren Sieg

Die Entscheidung ist gefallen: Die Mehrheit der Briten hat beim Brexit-Referendum für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt.
Die Entscheidung ist gefallen: Die Mehrheit der Briten hat beim Brexit-Referendum für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt. © REUTERS | NEIL HALL
Überall auf den Straßen Londons ...
Überall auf den Straßen Londons ... © Getty Images | Chris J Ratcliffe
... jubeln die Brexit-Befürworter.
... jubeln die Brexit-Befürworter. © imago | Kyodo News
51,9 Prozent der Briten haben für den Austritt aus der EU gestimmt, lediglich 48,1 Prozent für den Verbleib. Insgesamt votierten 17.410.742 Wähler beim EU-Referendum für den Brexit, 16.141.241 fürs Drinbleiben.
51,9 Prozent der Briten haben für den Austritt aus der EU gestimmt, lediglich 48,1 Prozent für den Verbleib. Insgesamt votierten 17.410.742 Wähler beim EU-Referendum für den Brexit, 16.141.241 fürs Drinbleiben. © dpa-infografik | dpa-infografik GmbH
Nach Ansicht des führenden Vertreters des Brexit-Lagers, Boris Johnson, dürfte sich kurzfristig nichts ändern. Es gebe keinen Grund zur Eile, sagt der frühere Londoner Bürgermeister.
Nach Ansicht des führenden Vertreters des Brexit-Lagers, Boris Johnson, dürfte sich kurzfristig nichts ändern. Es gebe keinen Grund zur Eile, sagt der frühere Londoner Bürgermeister. © REUTERS | POOL
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach der Brexit-Entscheidung Großbritanniens für einen EU-Austritt zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Es dürfe jetzt keine schnellen und einfachen Schlüsse geben, sagte sie am Freitag in Berlin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach der Brexit-Entscheidung Großbritanniens für einen EU-Austritt zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Es dürfe jetzt keine schnellen und einfachen Schlüsse geben, sagte sie am Freitag in Berlin. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
„Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa, er ist ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess“, sagte Merkel.
„Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa, er ist ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess“, sagte Merkel. © dpa | Kay Nietfeld
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fordert die Regierungen in Berlin und Paris zu einer raschen Reaktion auf. „Ich erwarte, dass Frankreich und Deutschland eindeutig Position beziehen, damit für jeden klar wird, dass diese Situation der Unsicherheit nicht lange anhalten darf“.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fordert die Regierungen in Berlin und Paris zu einer raschen Reaktion auf. „Ich erwarte, dass Frankreich und Deutschland eindeutig Position beziehen, damit für jeden klar wird, dass diese Situation der Unsicherheit nicht lange anhalten darf“. © REUTERS | FRANCOIS LENOIR
Der französische Präsident Francois Hollande bedauert das Brexit-Votum. Das Nein der Briten zur EU sei eine große Herausforderung für Europa, das nun nicht zur Tagesordnung übergehen könne.
Der französische Präsident Francois Hollande bedauert das Brexit-Votum. Das Nein der Briten zur EU sei eine große Herausforderung für Europa, das nun nicht zur Tagesordnung übergehen könne. © Getty Images | Thierry Chesnot
Am Freitagmorgen hat der britische Premierminister David Cameron vor seinem Amtssitz Downing Street 10 seinen Rücktritt für Oktober angekündigt.
Am Freitagmorgen hat der britische Premierminister David Cameron vor seinem Amtssitz Downing Street 10 seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. © REUTERS | STEFAN WERMUTH
Er zog damit die Konsequenzen aus seiner Niederlage beim EU-Referendum.
Er zog damit die Konsequenzen aus seiner Niederlage beim EU-Referendum. © dpa | Michael Kappeler
Freude beim britischen Rechtspopulisten Nigel Farage. Der Chef der rechtspopulistischen Ukip fordert rasche Austrittsverhandlungen. „Die EU scheitert, die EU stirbt“, sagte er. „Ich hoffe, wir haben den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“
Freude beim britischen Rechtspopulisten Nigel Farage. Der Chef der rechtspopulistischen Ukip fordert rasche Austrittsverhandlungen. „Die EU scheitert, die EU stirbt“, sagte er. „Ich hoffe, wir haben den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“ © REUTERS | TOBY MELVILLE
Morgendämmerung am 24. Juni: London erwacht – in einem völlig anderen Europa.
Morgendämmerung am 24. Juni: London erwacht – in einem völlig anderen Europa. © dpa | Hannah Mckay
Am Freitagmorgen fiel das Pfund erstmals seit 1985 unter die Marke von 1,35 US-Dollar.
Am Freitagmorgen fiel das Pfund erstmals seit 1985 unter die Marke von 1,35 US-Dollar. © REUTERS | ANDREW KELLY
Der bevorstehende Ausstieg Großbritanniens aus der EU hat dem Dax den größten Kurssturz seit 2008 eingebrockt. Er fiel zur Eröffnung am Freitag um 10 Prozent auf 9232 Punkte.
Der bevorstehende Ausstieg Großbritanniens aus der EU hat dem Dax den größten Kurssturz seit 2008 eingebrockt. Er fiel zur Eröffnung am Freitag um 10 Prozent auf 9232 Punkte. © dpa | Frank Rumpenhorst
Auch die Börse in Tokio wurde auf Talfahrt geschickt.
Auch die Börse in Tokio wurde auf Talfahrt geschickt. © dpa | Kiyoshi Ota
Der Jubel der Brexit-Befürworter ist groß. Von Anfang an war klar, dass die Entscheidung zwischen EU-Gegnern und EU-Befürwortern sehr knapp ausfallen würde.
Der Jubel der Brexit-Befürworter ist groß. Von Anfang an war klar, dass die Entscheidung zwischen EU-Gegnern und EU-Befürwortern sehr knapp ausfallen würde. © dpa | Michael Kappeler
Bei einer Wahlparty der EU-Gegner wuchs die Freude der Brexit-Anhänger, ...
Bei einer Wahlparty der EU-Gegner wuchs die Freude der Brexit-Anhänger, ... © dpa | Michael Kappeler
... je wahrscheinlicher der Sieg der EU-Gegner wurde.
... je wahrscheinlicher der Sieg der EU-Gegner wurde. © dpa | Michael Kappeler
Mit steigender Wahrscheinlichkeit für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU fiel auch der Kurs des britischen Pfund Sterling.
Mit steigender Wahrscheinlichkeit für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU fiel auch der Kurs des britischen Pfund Sterling. © dpa | epa Andy Rain
Millionen Briten waren am Donnerstag dazu aufgerufen, ...
Millionen Briten waren am Donnerstag dazu aufgerufen, ... © imago/ZUMA Press | imago stock&people
... ihr Kreuzchen bei der Abstimmung über Verbleib oder Austritt Großbritanniens in der EU zu setzen.
... ihr Kreuzchen bei der Abstimmung über Verbleib oder Austritt Großbritanniens in der EU zu setzen. © dpa | Elisabeth Moseley
Wegen Unwetter und Überschwemmungen mussten zwar einige Wahllokale geschlossen werden, ...
Wegen Unwetter und Überschwemmungen mussten zwar einige Wahllokale geschlossen werden, ... © imago/ZUMA Press | imago stock&people
... vom schlechten Wetter ließen sich die meisten Briten aber nicht aufhalten. Die Wahlbeteiligung lag bei gut 72 Prozent.
... vom schlechten Wetter ließen sich die meisten Briten aber nicht aufhalten. Die Wahlbeteiligung lag bei gut 72 Prozent. © imago/i Images | imago stock&people
Natürlich gaben auch Premierminister David Cameron und seine Ehefrau Samantha ihre Stimme ab.
Natürlich gaben auch Premierminister David Cameron und seine Ehefrau Samantha ihre Stimme ab. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
Und auch der frühere Londoner Bürgermeister und EU-Gegner Boris Johnson nahm gemeinsam mit seiner Frau Marina Wheeler an der Abstimmung teil.
Und auch der frühere Londoner Bürgermeister und EU-Gegner Boris Johnson nahm gemeinsam mit seiner Frau Marina Wheeler an der Abstimmung teil. © dpa | Michael Kappeler
Um Punkt 22 Uhr am Donnerstagabend (Ortszeit) schlossen die Wahllokale und die Wahlurnen wurden zur Auszählung gebracht.
Um Punkt 22 Uhr am Donnerstagabend (Ortszeit) schlossen die Wahllokale und die Wahlurnen wurden zur Auszählung gebracht. © dpa | Anthony Devlin
Seit kurz nach 6 Uhr am Freitagmorgen (Ortszeit) steht fest: Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus.
Seit kurz nach 6 Uhr am Freitagmorgen (Ortszeit) steht fest: Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus. © dpa | Anthony Devlin
Damit war diese Aktion der EU-Befürworter wohl ein ungewollter Abschiedskuss.
Damit war diese Aktion der EU-Befürworter wohl ein ungewollter Abschiedskuss. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
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Farage hält eine Rede im Scheinwerferlicht und ruft den Sieg der „ehrlichen Menschen“ aus. Ein Sieg über die „Multinationalen“, „Großbanken“, über „Lügen, Korruption und Betrug“. Es ist kurz nach vier Uhr morgens an diesem Freitag, die Sonne ist gerade aufgegangen über der Insel. Und Nigel Farage, 52, den viele einen Scharfmacher nennen und manche einen Rassisten, Chef der Anti-EU-Partei Ukip und Mitglied im EU-Parlament in Brüssel, fährt den Motor für den Tag seines Triumphes hoch.

Großbritannien wird die EU verlassen. Johnson und Farage kämpften beide für dieses Ergebnis. Doch sie hatten ganz unterschiedliche Ziele: Für Farage ist der Brexit sein politisches Lebensthema. Vor 24 Jahren trat er bei den Konservativen aus, es war der Tag, an dem sein Premier John Major den Vertrag von Maastricht unterzeichnete – und damit die Gründung der Europäischen Union. Seit 17 Jahren sitzt Farage für die rechtspopulistische „UK Independence Party“ im EU-Parlament – und wettert gegen die EU. Den früheren Ratspräsident Herman van Rompuy nannte er einen Mann mit der „Ausstrahlung eines nassen Küchentuchs“. Er fiel vor allem auf mit Sprüchen. Nicht mit Inhalten. Und mit einer Haltung: Großbritannien lebt besser ohne EU.

Johnson lustig und laut, Farage noch lauter

Boris Johnson führt keinen Kampf gegen die EU. Er führt einen Kampf für sich selbst. Am 21. Februar dieses Jahres schickte er um 16.40 Uhr eine SMS an seinen Parteikollegen und Premier David Cameron, der als Regierungschef sich in den Ring warf für Europa, für die EU. Johnson schrieb ihm, dass er leider auf der anderen Seite stehen werde. Auf Seiten der Kampagne „Let’s take back control“ – zurück mit der Kontrolle. Raus aus der EU. Nicht einmal zehn Minuten später trat Johnson vor die Presse und verkündete, wo er stehe. Sein Votum gegen die EU war auch ein anderes Votum: Scheitert Cameron mit seiner Pro-Kampagne, will Johnson ihn als Premierminister beerben.

Zwei Politiker, die einen ähnlichen Stil pflegen, unterschiedliche Motive haben und doch an einem Strang ziehen. Johnson lustig und laut, Farage noch lauter. Lange war dessen Ukip eher eine Ein-Themen-Partei, wie es die AfD in Deutschland noch unter Bernd Lucke war: marktliberal, gegen den Euro, für mehr nationale Souveränität. Doch vor dem Referendum kam ein zweites Feld dazu, es wurde zum Hauptargument: Farages Ukip verknüpfte den EU-Austritt mit dem Thema Flucht und Migration. „Das war ein entscheidender Schachzug in der Debatte“, sagt Julian Rappold von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit unserer Redaktion.

Brexit als „Breaking Point“

Kurz vor der Abstimmung legte Farage noch einmal mit einem Plakat der Kampagne nach. Er präsentierte sich vor dem Bild, ein Treck von Flüchtlingen. „Wir müssen uns befreien von der EU“, steht daneben. Brexit als „Breaking Point“. Es ist der Tag, an dem die Pro-Europa-Politikerin Jo Cox von einem Fanatiker auf der Straße ermordet wird.

Farage habe „mit rassistischen Vorurteilen“ gespielt, sagt Bert van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik, CEP, unserer Redaktion. „Er weiß ganz genau, dass die Migrationspolitik Großbritanniens nur zu einem Minimum von der EU beeinflusst wird, nämlich dann, wenn EU-Bürger etwa aus Polen oder Rumänien zum Arbeiten nach England auswandern.“ Doch die Zuwanderung aus Pakistan oder Indien, geschweige denn die vergleichsweise geringe Zunahme durch Asylsuchende auf der Insel, sei keine Frage, die in Brüssel entschieden werde. Und doch setzte Farage vor allem auf diese Karte: Tritt das Königreich aus der EU aus, kommen keine Migranten mehr. Farage wusste, was funktioniert – einfache Antworten in komplizierten Zeiten.

Experten wie van Roosebeke und Rappold sagen, dass die Politik von Farage und Johnson auch aus einem anderen Grund funktionierte: Ihre Kampagne richtete sich gegen ein „Establishment“. Gegen das „Diktat aus Brüssel“. In England zeige sich die Vertrauenskrise in die politischen Akteure, in die Eliten, die das System lenken, sagt Rappold. Es ist eine Krise, die nicht nur das Königreich berührt, sondern auch Österreich, Deutschland oder Frankreich.

Johnsons Ziel: Premier

Farage, der selbst früher Börsenhändler war, und Johnson, der in Brüssel zur Schule ging, dort lange arbeitete, agitierten gegen Brüsseler Eliten. „Johnson weiß um die Bedeutung des EU-Finanzmarktes für den Standort der Metropole“, sagt van Roosebeke. Und doch: „Johnson hat das kalkulierend ausgeblendet, um sein persönliches Ziel zu erreichen.“ Johnsons Ziel: Premier.

Und Farage? Es ist ein Jahr her, da glaubte kaum noch einer an Nigel Farage. Seine Ukip erzielte bei den Parlamentswahlen nur einen Sitz. Er selbst scheiterte in seinem Wahlkreis gegen einen unbekannten Kandidaten der Torys. Ukip, die noch im Jahr zuvor bei der Europawahl triumphiert hatten, zerriss sich in parteiinternen Debatten. Farage trat zurück. Doch der Vorstand lehnte ab. Farage kam zurück. Und ist da.

Am Freitagmorgen gibt er ein Interview im britischen Fernsehen. 350 Millionen Pfund würden die Briten jede Woche an die EU zahlen, skandierten die Gegner vor dem Referendum. Geld, das besser in das Gesundheitswesen fließen solle. Ob das denn nun passierte, fragt die Journalistin. Und Farage sagt, dass diese Garantie ein Fehler der Kampagne gewesen sei. Das hätte er auch nie gefordert. Der Austritt der Briten ist gerade erst zwei Stunden beschlossen.