Berlin. Gesundheitsminister Gröhe kündigt im Interview schärfere Gesetze an – und ruft auch Familien von Pflegebedürftigen zur Wachsamkeit auf.

In aller Frühe ist Hermann Gröhe in unsere Berliner Redaktion gekommen. Der Gesundheitsminister nimmt einen Schluck Kaffee und greift nach einem Obstspieß. Es sind große Themen, die ihn umtreiben: die Reform der Pflege, die Auswirkungen der Flüchtlingssituation – und die Verrohung der politischen Auseinandersetzung.

Frage: In Großbritannien wurde die Labour-Abgeordnete Jo Cox, die für den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union eingetreten war, auf offener Straße ermordet. In Köln hatte Henriette Reker als Oberbürgermeisterkandidatin, die sich für Flüchtlinge einsetzt, ein Attentat nur knapp überlebt. Eskaliert der Hass auf Politiker?

Hermann Gröhe: Dass Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, auf diese Weise angegriffen werden, ist schockierend und traurig. Soweit wir aus England hören, ist noch nicht klar, ob eine psychische Krankheit vorliegt und welche Rolle politische Hassparolen spielten. Aber die Bereitschaft steigt, auch in politischen Auseinandersetzungen zu Hassparolen zu greifen. Und in den sozialen Netzwerken ist es leicht geworden, unerkannt Hass zu säen. Der Mord in England und das Attentat in Köln sind da sicherlich Alarmzeichen.

Erfahren Sie auch persönlich Hass?

Gröhe:: Glücklicherweise sehr selten. Auf meiner Facebook-Seite gab es die härtesten rechtsradikalen Kommentare nach meinem Besuch beim Katholikentag in Leipzig. Da wurde ich als „Volksverräter an der Seite der Flüchtlingsindustrie“ beschimpft.

In der Flüchtlingskrise mischen sich berechtigte Sorgen und Hirngespinste. Was ist dran an der Behauptung, dass die Krankheitsrisiken steigen, wenn so viele Menschen zu uns kommen?

Hermann Gröhe (CDU) sprach auch über den Umgang mit der Flüchtlingssituation.
Hermann Gröhe (CDU) sprach auch über den Umgang mit der Flüchtlingssituation. © Reto Klar | Reto Klar

Gröhe:: Als im vergangenen Jahr sehr viele Flüchtlinge in sehr kurzer Zeit nach Deutschland kamen, waren die Erstuntersuchungen eine riesige Herausforderung, die nur durch besondere Anstrengungen haupt- und ehrenamtlicher Kräfte gelang. Die Angst und die Angstmacherei, mit den Flüchtlingen kämen dramatische Krankheiten, konnten durch Fakten schnell entkräftet werden. Nach dem, was uns die Ärzte berichten, leiden die Menschen, die zu uns kommen, vor allem an den Folgen der beschwerlichen Flucht, sind erschöpft und in Sammelunterkünften dem Risiko schnellerer Ansteckungen ausgesetzt. Wir registrieren auch meldepflichtige Krankheiten wie Windpocken und Tuberkulose, die aber gut behandelbar ist. Die Wissenschaftler des Robert Koch- Instituts sehen weiterhin keine erhöhte Infektionsgefährdung der Allgemeinbevölkerung durch Flüchtlinge.

Können Sie abschätzen, welche zusätzlichen Kosten entstehen?

Gröhe:: Das hängt im Kern damit zusammen, wie schnell eine Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt gelingt und ob die Flüchtlingszahlen weiter niedrig bleiben. Aufgrund einer gemeinsamen Schätzung mit dem Finanzministerium haben wir vorgesehen, mit einer Milliarde Euro aus der Rücklage des Gesundheitsfonds zusätzliche Belastungen für die Beitragszahler zu vermeiden. Mit weiteren 500 Millionen finanzieren wir einmalige Investitionen in die telemedizinische Infrastruktur. Das ist vertretbar, denn der Gesundheitsfonds verfügt über eine Reserve von zehn Milliarden Euro.

Was heißt das für die Beitragszahler?

Gröhe:: Eine gute medizinische Versorgung der Flüchtlinge ist in unser aller Sinne. Für mich ist aber auch klar, dass wir zusätzliche Belastungen für die Beitragszahler vermeiden sollten. Deshalb treffen wir jetzt die nötigen Vorkehrungen.

CDU und CSU streiten seit Monaten über Flüchtlingsfragen. Wie lautet Ihre Diagnose: Ist das noch gesund, bereits chronisch – oder sogar lebensgefährlich für die Union?

Gröhe:: Unnützer Streit erhöht weder die Lebensqualität noch die Freude an einer Koalition. Im Hinblick auf das, was wir heute tun müssen, sind wir uns in der Union ja auch weitgehend einig. Das betrifft die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten, schnellere Rückführungen, aber auch Integration und Sprachförderung. Nachhutgefechte über die Entscheidungen der Bundesregierung im vergangenen Jahr sollten daher jetzt beendet werden. Das Treffen von CDU und CSU in Potsdam bietet dafür eine gute Gelegenheit.

Zu den undankbaren Aufgaben jedes Gesundheitsministers gehört die Organisation der Pflege. In den vergangenen Monaten ist Pflegebetrug zu einem geflügelten Wort geworden wie früher der Pflegenotstand. Pflegekrise – trifft es das?

Der Gesundheitsminister kündigte auch an, Familien besser vor Pflegebetrug zu schützen.
Der Gesundheitsminister kündigte auch an, Familien besser vor Pflegebetrug zu schützen. © Reto Klar | Reto Klar

Gröhe:: In Deutschland werden Millionen Menschen gut gepflegt – dank gelebter Solidarität in unseren Familien und eines enormen Einsatzes unserer Pflegekräfte. Wo Betrüger die Gesundheit von Pflegebedürftigen gefährden, um die Pflegekassen zu plündern, ist entschlossene Strafverfolgung gefragt. Auch die vielen Pflegekräfte, die sich tagtäglich für andere einsetzen, dürfen durch solche Schmutzfinken nicht in Verruf gebracht werden. Pflegebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte müssen vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden – dafür kämpfe ich.

Bei den jüngsten Skandalen haben vor allem russisch geführte Pflegedienste systematisch Leistungen falsch abgerechnet. Was genau wollen Sie tun, um Betrug zu verhindern?

Gröhe:: Wir haben schon in den vergangenen Jahren die Regeln verschärft. Die rund 12.000 Dienste, die in der ambulanten Altenpflege tätig sind, dürfen im Verdachtsfall unangemeldet kontrolliert und die Abrechnungen überprüft werden. Bei den 200 bis 300 Diensten, die ausschließlich häusliche Krankenpflege machen, ist das bisher nicht der Fall. Wir wollen mit dem dritten Pflegestärkungsgesetz, das Ende Juni im Kabinett beschlossen werden soll, die Kontrollen auf diesen Bereich ausweiten. Dann können sämtliche Pflegedienste in Deutschland vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung unangemeldet kontrolliert werden, wenn ein Verdacht gegen sie vorliegt.

Außerdem verpflichten wir die Pflegekassen, schon bei der Zulassung von Pflegediensten sicherzustellen, dass sich kriminelle Pflegedienste nicht einfach unter neuem Namen oder über Strohmänner eine neue Zulassung erschleichen können. Damit können Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, aber auch die vielen Pflegedienste, die gute Arbeit leisten, besser vor Kriminellen geschützt werden. Wo Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen den Verdacht haben, von einem Pflegedienst hintergangen zu werden, sollten sie sich an die Fehlverhaltensstellen der Krankenkassen wenden, die wir mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz gestärkt und zur Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft verpflichtet haben.

Genügt das?

Gröhe:: Es gibt Betrug, der im Grenzbereich von Wirtschaftskriminalität und organisierter Kriminalität angesiedelt ist. In besonders empörenden Fällen gibt es ein Zusammenwirken von Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und betrügerischen Diensten. Gerade in diesen Fällen sind polizeiliche Ermittlungsmethoden unverzichtbar. Hier sollten die Bundesländer prüfen, ob durch Schwerpunktstaatsanwaltschaften und geeignete Maßnahmen bei der Polizeiorganisation der Strafverfolgungsdruck erhöht werden kann.

Sie wollen die Ausbildung für Alten- und Krankenpfleger zusammenlegen – und stoßen damit auf Kritik. Warum ist es Ihnen so wichtig, den Beruf der Krankenschwester abzuschaffen?

Gröhe:: Kein Beruf wird abgeschafft – im Gegenteil! Wir wollen die Attraktivität des Pflegeberufs und die Aufstiegschancen durch eine gemeinsame Ausbildung mit Schwerpunktsetzung erhöhen. Wichtig ist, dass unsere Pflegekräfte bestmöglich auf die veränderten Anforderungen in der Pflege vorbereitet sind. Deshalb begrüßen auch die allermeisten Pflegefachverbände den Gesetzentwurf...

... und Ihre Kritiker haben Sie nur falsch verstanden?

Gröhe:: Was wir planen, ist eine tiefgreifende Ausbildungsreform. Und da ist es verständlich, dass es auch Diskussionen gibt. Kritischen Anfragen und Vorschlägen stellen wir uns – und zwar in aller Gründlichkeit.

Zu welchen Änderungen sind Sie bereit?

Gröhe:: Die Koalitionsfraktionen und das Gesundheitsministerium werten jetzt die Bundestagsanhörung ganz intensiv aus. Dabei wird auch diskutiert werden, ob Änderungen im vorgesehenen Ausbildungsaufbau sinnvoll sind. An einem gemeinsamen Berufsbild sollten wir allerdings festhalten, wie dies auch der Koalitionsvertrag vorsieht. Wenn wir bei der gemeinsamen Berufsbezeichnung „Pflegefachfrau/Pflegefachmann“ die Schwerpunktsetzung mit einem Zusatz, etwa „Schwerpunkt Kinderkrankenpflege“ deutlich machen, können sich viele Betroffene eher wiederfinden.