Berlin. Immer mehr Jugendliche radikalisieren sich. Die Behörden wollen deshalb eine bessere Überwachung. Doch Kritiker fordern Prävention.

„Datt hat rischtig reingehauen“, sagt Pierre Vogel im süffigen Rheinländisch ins Mikrofon. Und: „Allahu akbar!“. Neben ihm sitzt Safia, erst neun Jahre alt, ihr Gesicht umkreist von einer schwarzen Hijab. Gerade hat Safia vor der versammelten Moschee-Gemeinde in Hannover mit hellen Stimme eine Sure des Koran gesungen, drei Minuten lang, auswendig. Vogel ist begeistert. „Hömma, ich muss dich aufnehmen, dann kann ich dich im Auto hören.“ Pierre Vogel hat sich selbst zu einer Marke unter deutschen Islamisten inszeniert. Und mit Safia S. zeigt er sich mehrfach in Youtube-Videos. Der große und der kleine Star der Szene.

Fast sechs Jahre später, im Februar dieses Jahres, sticht Safia S. einem Polizisten am Bahnhof von Hannover bei einer Routinekontrolle in den Hals. Das heute 15 Jahre alte Mädchen sitzt wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Die Justiz klärt, ob es eine geplante Tat war. Es ist ein Einzelfall. Und doch sind die Sicherheitsbehörden alarmiert: Teenager und teilweise noch Kinder radikalisieren sich, schließen sich der Islamisten-Szene an. Einzelne ziehen sogar in den Dschihad. Die Propaganda des sogenannten „Islamischen Staates“ wirkt auch bei Minderjährigen. Manche sagen: Sie wirkt vor allem dort.

Radikale sind mitunter jünger als 16 Jahre alt

Mehr als 810 deutschen Islamisten sollen sich Terrorgruppen in Syrien und Irak angeschlossen haben. Fünf Prozent waren bei ihrer Ausreise minderjährig, 40 Jugendliche, vereinzelt waren sie sogar jünger als 16 Jahre. Das geht aus einer bisher nicht-veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf Nachfrage der Linksfraktion aus, die dieser Redaktion vorliegt.

Schon länger beobachten Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, wie die Propaganda von Islamisten junge Menschen ins Visier nimmt. Eine interne Analyse, die unserer Redaktion ebenfalls vorliegt, zeigt: Die Dschihadisten werden immer jünger. Hierbei habe vor allem die „Ausrufung des Kalifats“ durch den selbst ernannten IS im Sommer 2014 eine entscheidende Rolle gespielt. „Die nach Juni 2014 ausgereisten Personen sind zum Zeitpunkt der ersten Ausreise durchschnittlich drei Jahre jünger.“ Dort heißt es sogar: Der Anteil von ausgereisten Minderjährigen ist seit Sommer 2014 auf zwölf Prozent angewachsen. Jeder Fünfte war noch Schüler. 677 Personenakten hatten Behörden für die Studie analysiert.

Jugendliche unter Terrorverdacht

Der Verfassungsschutz sammelt und speichert Daten über Hunderte Islamisten. Acht Personen sind sogar erst 14 Jahre alt, sieben davon islamistische Extremisten, einer ist Neonazi. Daten zu 27 Extremisten im Alter von 15 Jahren hat das Bundesamt gespeichert, davon sind 25 Islamisten – insgesamt 35 Jungen und Mädchen unter 16 Jahren stehen im Fokus des Geheimdienstes. Auch das geht aus der Anfrage der Linken hervor. Für Menschen unter 16 Jahren besteht besonderer Schutz. Doch zu vier Personen führt das BfV sogar eigene Akten, die bei 14- und 15-Jährigen nur angelegt werden dürfen, wenn Terrorverdacht besteht oder die Sicherheit Deutschlands gefährdet ist.

Trotz der Möglichkeit, Daten von Minderjährigen zu speichern, warnt Verfassungsschutz-Chef Hans-Jörg Maaßen nun: „Wir haben das Problem, dass wir Daten von Personen unter 16 Jahren grundsätzlich nicht speichern dürfen, es sei denn, es gibt konkrete Hinweise auf eine terroristische Bedrohung.“ Und diese Hinweise – wie sie offenbar bei vier Personen vorliegen – seien oft schwer nachzuweisen, erzählen Sicherheitsleute. Zumal der Geheimdienst bei Jugendlichen ohnehin nicht so häufig mit allen Ressourcen vorgehe – denn meist zählen sie nicht zu den Anführern in der Szene.

Wer noch nicht kriminell wurde, ist kaum zu verfolgen

Der Verfassungsschutz steht vor einem Dilemma: Er soll schon im Vorfeld einer möglichen Straftat eine Szene aufklären. Doch wer noch nicht kriminell ist, den schützt das Gesetz stärker vor Zugriff des Staates. Im Kampf gegen den Terror hat die Bundesregierung bereits deutlich die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden verschärft. Die Polizei kann einem Islamisten beispielsweise sowohl Reisepass als auch Personalausweis entziehen, um eine mögliche Ausreise zu verhindern. Prepaid-Karten für Handys können nur noch mit Ausweis gekauft werden, damit die Behörden im Ernstfall die Telefonate der Person überwachen können. Innenpolitiker der Koalition halten weitere Maßnahmen für sinnvoll.

Datenschützer und Opposition sehen die Verschärfungen kritisch. Von einer stärkeren Überwachung von Minderjährigen hält Ulla Jelpke, Innenexpertin der Linksfraktion, nichts. Sie verweist auf die bestehenden Möglichkeiten im Gesetz, selbst Jugendliche zu überwachen. Das reiche aus. „Davon abgesehen ist es nicht Aufgabe des Geheimdienstes, sich um Kinder zu kümmern. Das ist die Aufgabe von Einrichtungen der Jugend- und Kinderhilfe“, sagte Jelpke dieser Redaktion.

IS missbraucht Bilder von Kindern zur Propaganda

In der Propaganda des IS werden Kinder als Opfer durch Bombenangriffe gezeigt. Mit den Videos emotionalisieren Islamisten den „Kampf für das Kalifat“. Der selbst ernannte „Staat“ kümmere sich um alle Generationen, das sollen die Bilder vermitteln. Doch die Jugend wird auch als „Waffe“ eingesetzt. Kinder lernen in Schulen beim IS den Koran – und das Schießen. Terroristen inszenieren Kinder als Henker, zeigen Minderjährige bei Hinrichtungen. Die Bilder sollen schocken und „Entschlossenheit“ des IS demonstrieren, analysieren Experten des Präventionsprojekts jugendschutz.net.

Solche Videos wirken bis nach Deutschland. Um eine Radikalisierung von Jugendlichen zu verhindern, fordern Experten Prävention in Schulen, Jugendzentren und in der Familie. Oft seien Kinder, die sich religiösem Extremismus hingezogen fühlen, selbst „religiöse Analphabeten“, sagt der Pädagoge Kurt Edler, der seit Jahren mit Schülern und Lehrern dazu arbeitet. Experten wie Claudia Dantschke aus Berlin sprechen vom „Pop-Dschihadismus“, die den radikalen Islamismus vor allem als jugendliche Subkultur erklären – mit eigener Sprache, Symbolik und Stil. Und mit Gewaltpotenzial.

Fast 15 Jahre nach den Anschlägen von New York steht die Prävention gegen islamistische Gewalt in Deutschland am Anfang. Eine Gesamtstrategie entsteht langsam, bisher herrschte bundesweit eher ein Flickenteppich an Angeboten, oft unkoordiniert, lange unterfinanziert. Nun zeigen Projekte erste Erfolge. Doch wie heikel die Arbeit ist, zeigte der Sprengstoffanschlag auf einen Sikh-Tempel im April in Essen. Einer der Täter war bereits in einem Präventionsprojekt – trotzdem wurde er gewalttätig. Die beiden Salafisten waren 16 und 17 Jahre alt.