London. Im Machtkampf zwischen David Cameron und Boris Johnson befinden sich die EU-Gegner mittlerweile im Aufwind. Wird es zum Brexit kommen?

Drei Wochen vor dem Brexit-Referendum scheint sich die Stimmung in Großbritannien zu drehen: Die Befürworter eines EU-Austritts bekommen immer mehr Aufwind. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ICM sieht die EU-Gegner bei 52 Prozent, die EU-Anhänger dagegen bei 48 Prozent. Nach einer Erhebung der Zeitung „Guardian“ liegen die „Brexiteers“ ebenfalls vorn. In den vergangenen Wochen hatten die Pro-EU-Kräfte mit deutlichem Abstand geführt. Teilweise lag der Abstand bei bis zu 13 Prozentpunkten.

Die Finanzmärkte reagierten sofort auf den Stimmungsumschwung. Das Pfund fiel nach einem Höhenflug in den letzten Wochen wieder um einen Cent gegenüber dem Euro.

Im Amtssitz von Premierminister Cameron wird man nervös

Im Amtssitz des britischen Premierministers David Cameron, der für den EU-Verbleib kämpft, macht sich zunehmend Nervosität breit. Interne Prognosen hatten einen Endstand von 58 zu 42 Prozent für eine weitere Mitgliedschaft in der europäischen Staatengemeinschaft gesehen. Jetzt scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Die „Times“ zitierte am Mittwoch einen Kampagnenmanager der Pro-Europa-Bewegung „Britain Stronger In Europe“, der zugab, dass die Lage zurzeit völlig offen sei.

Für Cameron geht es um alles oder nichts. Der Premier, der sich in den letzten Monaten zum leidenschaftlichen Werber für die Europäische Union gemausert hatte, weiß, dass er eine Niederlage beim Referendum politisch nicht überleben würde. Sollte die britische Bevölkerung am 23. Juni entscheiden, nicht mehr zum Brüsseler Klub gehören zu wollen, müsste Cameron seinen Hut nehmen – trotz aller gegenteiliger Versicherungen. Der Druck würde zu groß werden. Die innerparteiliche Rebellion gegen ihn wäre nicht mehr aufzuhalten.

Der Nachfolger stünde auch schon bereit: Camerons innerparteilicher Rivale Boris Johnson hätte die besten Karten, nächster Chef der Konservativen Partei und damit auch Premierminister zu werden. Johnson ist die Galionsfigur von „Vote Leave“, der offiziellen Austrittskampagne. Er führt das Brexit-Lager an. Wenn er am 24. Juni als Sieger dastehen sollte, wird ihn seine Popularität bei der konservativen Basis ins höchste Amt katapultieren. Deshalb kann es in der großen Brexit-Debatte nur einen geben: Cameron oder Johnson.

Cameron will keine persönlichen Auseinandersetzungen mit Johnson

Cameron hat seinen Terminkalender freigeräumt und macht Wahlkampf für Europa. Er trat beim Firmensitz des Heimwerkerkonzerns „B&Q“ auf, um die Belegschaft vor einer hausgemachten „Do-it-yourself-Rezession“ zu warnen, die auf das Land im Falle eines Brexit zukäme. Er unterstrich bei einem Vortrag im „British Museum“ wie zentral die europäische Solidarität für die Friedensordnung der Nachkriegszeit sei. Er lässt sich in Schulen ebenso sehen wie in der City, dem Londoner Finanzdistrikt. Seine Botschaft ist: Ein Austritt wäre ein Sprung ins Ungewisse, ein Risiko für die wirtschaftliche wie auch für die nationale Sicherheit. Am heutigen Donnerstag wird er seinen ersten großen Kampagnenauftritt im Fernsehen haben, wenn „Sky News“ eine einstündige Befragung des Premiers durch Studiogäste ausstrahlt.

Was Cameron allerdings nicht will, sind persönliche Auseinandersetzungen mit Boris Johnson. Er hat die Losung ausgegeben, dass es keine „blau-auf-blau-Attacken“ (womit er die Parteifarbe der Konservativen meint) geben soll. Deswegen wird er auch an keiner Fernsehdebatte teilnehmen, in der er gegen Boris Johnson oder EU-kritische Kabinettsmitglieder wie Justizminister Michael Gove oder Kulturminister John Whittingdale antreten würde. Er fürchtet, dass durch persönliche Auseinandersetzungen das Klima in der Partei vollends vergiftet würde.

Johnson macht Wahlkampf im „Battle Bus“

Das hielt seine Gegner zu Beginn der Woche allerdings nicht davon ab, Cameron auch direkt anzugreifen. Zum Anlass nahmen sie die letzten Zahlen der offiziellen Einwanderungsstatistik. Demnach kamen im vergangenen Jahr 333.000 Zuwanderer nach Großbritannien. Cameron hatte im Wahlkampf jedoch versprochen, die Zahl der Immigranten auf unter 100.000 zu drücken. In einem gemeinsamen Brief beschuldigten Johnson und Justizminister Gove den Premierminister, dieses Versprechen gebrochen zu haben. Damit sei seine Glaubwürdigkeit nachhaltig erschüttert.

Boris Johnson macht Wahlkampf in seinem „Battle Bus“, einem knallroten „Kampf-Bus“, mit dem er durch die Lande fährt und auf dessen Seite steht: „Wir schicken der EU 350 Millionen Pfund pro Woche, lasst uns damit lieber unseren Gesundheitsdienst finanzieren.“ Die Zahl ist völlig aus der Luft gegriffen. Nach einem Bericht des Unterhausausschusses überweist Großbritannien wegen seines Rabattes weit weniger. Das Land bekomme zudem noch Gelder in Form von EU-Subventionen zurück. Das ficht den Blondschopf, der als Spaßmacher gilt, nicht an. Johnson verwendet die Zahl weiterhin und setzt auch andere schiefe Nachrichten in die Welt. Zum Beispiel, dass die EU den Verkauf von Bündeln mit weniger als vier Stück Bananen verbieten würde. Seine Zuhörer amüsiert das. Wenn Johnson auf Marktflecken oder in Pubs auftaucht und seine Botschaft von „Unabhängigkeit gewinnen, Kontrolle zurückerlangen“ verkündet, ist ihm Beifall sicher.

Trostpreis für Johnson auch bei einer Niederlage

Im Machtkampf mit Cameron kann Johnson abwarten und sich die Hände reiben. Während der Premier bei einer Niederlage sicherlich und bei einem zu knappen Sieg möglicherweise zum Rücktritt gezwungen wird, sieht die Sache für Johnson ganz anders aus. Er kann nur gewinnen. Als Sieger des Referendums hätte er die besten Chancen, Cameron zu beerben. Als Verlierer winkt ihm als Trostpreis ein wichtiger Kabinettsposten. Den muss ihm Cameron anbieten, um die Partei wieder zu einen.

Und da der Premier angekündigt hat, auf jeden Fall nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung zu stehen, hätte Johnson schon wieder in drei Jahren die nächste Chance, Parteivorsitzender zu werden.