Brüssel. Was Liberalisierung beim Luftverkehr schaffte, erwartet die EU-Kommission nun auch für die Bahn: niedrigere Preise, besseren Service.

Violeta Bulc ist geschafft. Bis spät in die Nacht haben die Schlussverhandlungen gedauert. Dann waren Ministerrat und EU-Parlament schließlich einig, nach welchen Regeln der europäische Eisenbahnmarkt in Zukunft funktionieren soll. „Es war nicht einfach, es war hart“, seufzt die Slowenin. Aber nun ist es vollbracht: Dank des „Vierten Eisenbahnpakets“, so heißt das Bündel aus sechs einzelnen Gesetzen, werde sich die Branche endgültig aus dem Klammergriff überständiger staatlicher Monopole befreien und zu neuer Dynamik finden. „Das Paket ist womöglich die letzte Chance, die Eisenbahn zu modernisieren“, sagt Bulc im Gespräch mit unserer Redaktion.

Das erste Transportmittel des Industriezeitalters ist weit hinter die Mitbewerber Auto und Flugzeug zurück gefallen. Der Anteil am Personenverkehr stagniert bei sechs Prozent, bei Fracht ist er sogar rückläufig. Seit Ende der achtziger Jahre bemüht sich die EU, gegenzusteuern. Doch die einstigen Staatsbetriebe verteidigen ihre Position auch unter veränderten Bedingungen mit Zähigkeit. Trotz Marktöffnung hat die Deutsche Bahn im Fernverkehr die private Konkurrenz klein gehalten und sich im Regionalgeschäft als Platzhirsch behauptet. Doch nun soll nicht mehr nach alter Sitte, Verbindungen und Besitzstand gehen, sondern nur noch nach Leistung, sagt die Kommission: „Der Binnenmarkt für Schienenverkehrsdienste wird vollendet.“

Neues Recht soll legale Monopole beenden

„Alle werden profitieren – Kunden, Dienstleister und Industrie“, versichert Bulc. Vor allem zwei Weichenstellungen sollen den großen Sprung nach vorn ermöglichen: Zum einen wird das europäische Schienennetz barrierefrei. Bulc: „Dafür haben wir 11.000 nationale Einzelvorschriften beseitigt und in 300 gemeinsame technische Standards überführt.“ Zum anderen wird der Markt komplett geöffnet: „Ab 2020 werden Betreiber das Recht haben, kommerzielle Dienste im gesamten Binnenmarkt anzubieten – das Ende legaler Monopole.“ Zudem sollen öffentliche Aufträge bis auf eng definierte Ausnahmen nur noch per Ausschreibung, nicht mehr direkt – nach eingespielten Beziehungen und womöglich überteuert – vergeben werden.

Das wird allerdings erst ab 2023 verpflichtend, die letzten freihändig vergebenen Aufträge können dann noch zehn Jahre laufen. Ist das nicht reichlich spät? „Ja“, sagt Bulc, „das ist enttäuschend. Es war der umstrittenste Punkt in den Verhandlungen. Die Mitgliedstaaten wollten das sogar bis 2042 verschieben – unglaublich!“ Die Kommission werde aber dafür sorgen, dass die EU-Länder schon vorher Schritt für Schritt zum künftigen System übergehen. Man behalte sich weiteres vor, wenn das bis 2019 nicht funktioniere.

Verbraucher sollen von besseren Preisen profitieren

Für den Verbraucher erwartet die Kommissarin Fortschritt auf breiter Front: günstigere Preise, häufigere Verbindungen, bessere Qualität. „In der Luft haben wir EasyJet auf der einen, Lufthansa auf der anderen Seite. Das kriegen wir jetzt auch auf der Schiene – verschiedene Anbieter, die unterschiedlichen Bedarf abdecken.“ Auch aus Klimagründen, fügt Bulc hinzu, müsse die Eisenbahn attraktiver werden – nur wenn mehr Mobilität zur Bahn wandere, könne der Transportsektor den fälligen Beitrag zur Drosselung des Schadstoff-Ausstoßes leisten.

In die Besitzverhältnisse – staatlich, privat – mischt sich die Kommission nicht ein. Die ursprünglich angestrebte strikte Trennung von Schienennetz und Fahrbetrieb konnte sie nicht durchsetzen. Nun soll ein Bündel von Spielregeln dafür sorgen, dass es in Holdings wie der DB nicht zu Quersubventionen kommt. Auch in diesem Punkt ist Bulc mit dem Kompromiss nicht ganz zufrieden. Doch die Auflagen, sagt sie, werden reichen, um Interessenten anzulocken: „Worauf es ankommt, ist das Engagement von Investoren. Bislang investieren hauptsächlich die Mitgliedstaaten. Aber der Bedarf ist viel höher. Und private und institutionelle Investoren bekommt man nur, wenn die Bedingungen transparent und verlässlich sind.“

Fachpolitiker äußern Kritik an der Reform

Fachpolitiker aus dem EU-Parlament bezweifeln das. Aus Sicht der FDP-Abgeordneten Gesine Meißner „haben Deutsche Bahn und französische SNCF ihre Monopolstellung verteidigt“. Michael Cramer, Chef des Verkehrsausschusses, lobt zwar den technischen Teil des Pakets, die Verknüpfung der Netze. Von der sogenannten politischen Säule hält er indes wenig. Vor allem aber ändere sich nichts an der systematischen Benachteiligung der Schiene. „Von der Bahn werden für jeden Kilometer Abgaben erhoben, das Straßennetz ist gerade mal zu 0,9 Prozent bemautet.“ Wie Cramer befürchtet auch der SPD-Verkehrsobmann Ismail Ertug, dass beim Betreiberwechsel die Interessen der Beschäftigen auf der Strecke bleiben. Insgesamt biete die Reform „keinen Mehrwert für den Schienenverkehr, sondern erhöht rechtliche Unsicherheiten für Unternehmen und Investoren“.

Die Kommissarin hat aus den langwierigen Verhandlungen mit Branchenvertretern einen anderen Eindruck mitgenommen: So habe etwa der tschechische Bahn-Betreiber Leo Express mit Blick auf die künftigen Möglichkeiten große Pläne signalisiert: „Die wollen das EasyJet auf der Schiene werden!“. Formell muss das Eisenbahn-Paket im Laufe des Jahres noch vom Parlament und vom Ministerrat als Organ der Regierungen verabschiedet werden.